Neue Krise, alte Gräben
In der Corona-krise fällt die Europäische Union in ihre Verhaltensmuster
Wenn es sein muss, dann kann Eukommissionschefin Ursula von der Leyen die Dramatik der Stunde geschickt in Worte fassen: „Die Geschichte schaut auf uns. Lassen Sie uns gemeinsam das Richtige tun – mit einem großen Herzen, nicht mit 27 kleinen“, sagte sie am Donnerstagmorgen vor dem fast leeren Europaparlament – wegen der Covid-19-pandemie hatte das Parlament den Abgeordneten erlaubt, auch von zu Hause aus an der Sitzung teilzunehmen. Zu viele der 27 Mitglieder hätten zunächst nur an sich selbst gedacht, monierte von der Leyen mit Leidenschaft. Die Menschen würden „sich auch daran erinnern, wer in der Krise für sie da war – und wer nicht. Sie werden sich daran erinnern, wer gehandelt hat – und wer nicht.“Die Präsidentin zog sogar Parallelen zwischen dem Nationalismus, der zum Zweiten Weltkrieg führte und der Antwort der Eu-staaten auf die gegenwärtige Corona-krise.
Die Eu-kommissionschefin wusste, dass sie dadurch eine Warnung an die 27 Staats- und Regierungschefs der Eu-staaten aussenden würde, die sich nur wenige Stunden später bei einem Videogipfel treffen würden, um über das Vorgehen der EU zu beraten. Von der Leyens Botschaft an sie war in ihrem Wesen unmissverständlich: jetzt rauft euch endlich zusammen. Denn die Reaktion der Eu-staaten auf die Corona-pandemie war in einer ersten Phase chaotisch, egoistisch und kontraproduktiv, wie Ursula von der Leyen es in ihrer Rede vor Augen führte. Viele Eustaaten betreiben Symbolpolitik, indem sie Grenzkontrollen einführen: „Eine Krise, die keine Grenzen kennt, kann nicht gelöst werden, indem wir Schranken zwischen uns errichten. Und doch war dies in vielen europäischen Länder der erste Reflex. Das macht ganz einfach keinen Sinn“, sagte von der Leyen. Daneben gab es auch andere Formen von Egoismus, wie etwa die deutsche Unterbindung von Schutzmaterial-exporten. Auch das „macht keinen Sinn“.
Wie wirksam die Rede war, lässt sich nur schwer sagen, doch klingen die Staats- und Regierungschefs mittlerweile etwas geschlossener als noch vor einer Woche. Laut dem Entwurf der gestrigen Gipfelerklärung wollen sie die Probleme für den Warenverkehr an den teils geschlossenen Grenzen beheben, die gemeinsame Beschaffung von Schutzausrüstung vorantreiben und Forschung an Mitteln gegen Covid-19 verstärkt fördern.
Beim Geld fängt der Streit an
Und während der Luxemburger Premier Xavier Bettel (DP) vergangene Woche noch darauf aufmerksam machen musste, dass die wiedereingeführten Grenzkontrollen für das Gesundheitswesen des Großherzogtums, das auf Grenzpendler angewiesen ist, fatale Folgen haben könnten, trifft er nun auf Verständnis: „Wir werden ein reibungsloses Grenzmanagement für Personen und Güter sicherstellen und das Funktionieren des Binnenmarktes erhalten“, stand im Entwurf der Gipfelerklärung. „Grenzpendler müssen in der Lage sein, wesentliche Aktivitäten fortzusetzen.“
Doch der Kooperationswille hört derzeit noch bei der wirtschaftlichen Antwort auf die Krise auf: Die Eu-staaten sind in dieser
Frage noch zutiefst gespalten. Reiche Staaten aus Nordeuropa, zu denen vor allem Deutschland, die Niederlande oder Finnland gehören, sind der Meinung, dass die Antwort auf die Krise vor allem national sein soll und die EU noch abwarten muss, bevor sich Staaten untereinander finanziell unter die Arme greifen. Frankreich, Spanien, Italien – und auch Luxemburg – denken dagegen, dass es schnell eine gemeinsame europäische Antwort braucht. Die Logik dahinter ist nachvollziehbar: „Die Länder starten in diese Krise mit unterschiedlichen Schuldenständen“, erläutert Lucas Guttenberg von der Denkfabrik „Jacques Delors Centre“: „Eine rein nationale Antwort würde bedeuten, dass manchen Staaten sehr viel früher die fiskalische Puste ausgeht als anderen. Das wäre in niemandes Interesse.“
Zur Debatte standen gestern vorsorgliche Kreditlinien des Europäischen Stabilitätsmechanismus ESM, der noch rund 410 Milliarden Euro für Darlehen frei hat. Der angedachte Plan wäre eine Art Rettungsschirm für Eu-staaten, die wegen der Corona-krise Schwierigkeiten am Kapitalmarkt bekommen könnten. Die von neun Staaten, darunter auch Luxemburg, geforderten „Corona-bonds“, wodurch sich wirtschaftlich stärkere Staaten wie Deutschland mit schwächeren verbünden und gemeinsame Anleihen ausgeben, wurden gestern nicht konkret besprochen. Dafür ist der Widerstand in Nordeuropa noch zu stark. Somit sind die Gräben der Eurokrise wieder geöffnet: Der vermeintlich tugendhafte „Norden“verweigert dem Süden die Solidarität in Krisenzeiten. Doch warnen einige, dass es nun keine Zeit für alte Streitereien gibt. „Die Kosten des Zögerns können irreversibel sein“, meint etwa der ehemalige Chef der Europäischen Zentralbank Mario Draghi.
Die Menschen werden sich daran erinnern, wer gehandelt hat – und wer nicht.
Ursula von der Leyen