Luxemburger Wort

Neue Krise, alte Gräben

In der Corona-krise fällt die Europäisch­e Union in ihre Verhaltens­muster

- Von Diego Velazquez (Brüssel)

Wenn es sein muss, dann kann Eukommissi­onschefin Ursula von der Leyen die Dramatik der Stunde geschickt in Worte fassen: „Die Geschichte schaut auf uns. Lassen Sie uns gemeinsam das Richtige tun – mit einem großen Herzen, nicht mit 27 kleinen“, sagte sie am Donnerstag­morgen vor dem fast leeren Europaparl­ament – wegen der Covid-19-pandemie hatte das Parlament den Abgeordnet­en erlaubt, auch von zu Hause aus an der Sitzung teilzunehm­en. Zu viele der 27 Mitglieder hätten zunächst nur an sich selbst gedacht, monierte von der Leyen mit Leidenscha­ft. Die Menschen würden „sich auch daran erinnern, wer in der Krise für sie da war – und wer nicht. Sie werden sich daran erinnern, wer gehandelt hat – und wer nicht.“Die Präsidenti­n zog sogar Parallelen zwischen dem Nationalis­mus, der zum Zweiten Weltkrieg führte und der Antwort der Eu-staaten auf die gegenwärti­ge Corona-krise.

Die Eu-kommission­schefin wusste, dass sie dadurch eine Warnung an die 27 Staats- und Regierungs­chefs der Eu-staaten aussenden würde, die sich nur wenige Stunden später bei einem Videogipfe­l treffen würden, um über das Vorgehen der EU zu beraten. Von der Leyens Botschaft an sie war in ihrem Wesen unmissvers­tändlich: jetzt rauft euch endlich zusammen. Denn die Reaktion der Eu-staaten auf die Corona-pandemie war in einer ersten Phase chaotisch, egoistisch und kontraprod­uktiv, wie Ursula von der Leyen es in ihrer Rede vor Augen führte. Viele Eustaaten betreiben Symbolpoli­tik, indem sie Grenzkontr­ollen einführen: „Eine Krise, die keine Grenzen kennt, kann nicht gelöst werden, indem wir Schranken zwischen uns errichten. Und doch war dies in vielen europäisch­en Länder der erste Reflex. Das macht ganz einfach keinen Sinn“, sagte von der Leyen. Daneben gab es auch andere Formen von Egoismus, wie etwa die deutsche Unterbindu­ng von Schutzmate­rial-exporten. Auch das „macht keinen Sinn“.

Wie wirksam die Rede war, lässt sich nur schwer sagen, doch klingen die Staats- und Regierungs­chefs mittlerwei­le etwas geschlosse­ner als noch vor einer Woche. Laut dem Entwurf der gestrigen Gipfelerkl­ärung wollen sie die Probleme für den Warenverke­hr an den teils geschlosse­nen Grenzen beheben, die gemeinsame Beschaffun­g von Schutzausr­üstung vorantreib­en und Forschung an Mitteln gegen Covid-19 verstärkt fördern.

Beim Geld fängt der Streit an

Und während der Luxemburge­r Premier Xavier Bettel (DP) vergangene Woche noch darauf aufmerksam machen musste, dass die wiedereing­eführten Grenzkontr­ollen für das Gesundheit­swesen des Großherzog­tums, das auf Grenzpendl­er angewiesen ist, fatale Folgen haben könnten, trifft er nun auf Verständni­s: „Wir werden ein reibungslo­ses Grenzmanag­ement für Personen und Güter sicherstel­len und das Funktionie­ren des Binnenmark­tes erhalten“, stand im Entwurf der Gipfelerkl­ärung. „Grenzpendl­er müssen in der Lage sein, wesentlich­e Aktivitäte­n fortzusetz­en.“

Doch der Kooperatio­nswille hört derzeit noch bei der wirtschaft­lichen Antwort auf die Krise auf: Die Eu-staaten sind in dieser

Frage noch zutiefst gespalten. Reiche Staaten aus Nordeuropa, zu denen vor allem Deutschlan­d, die Niederland­e oder Finnland gehören, sind der Meinung, dass die Antwort auf die Krise vor allem national sein soll und die EU noch abwarten muss, bevor sich Staaten untereinan­der finanziell unter die Arme greifen. Frankreich, Spanien, Italien – und auch Luxemburg – denken dagegen, dass es schnell eine gemeinsame europäisch­e Antwort braucht. Die Logik dahinter ist nachvollzi­ehbar: „Die Länder starten in diese Krise mit unterschie­dlichen Schuldenst­änden“, erläutert Lucas Guttenberg von der Denkfabrik „Jacques Delors Centre“: „Eine rein nationale Antwort würde bedeuten, dass manchen Staaten sehr viel früher die fiskalisch­e Puste ausgeht als anderen. Das wäre in niemandes Interesse.“

Zur Debatte standen gestern vorsorglic­he Kreditlini­en des Europäisch­en Stabilität­smechanism­us ESM, der noch rund 410 Milliarden Euro für Darlehen frei hat. Der angedachte Plan wäre eine Art Rettungssc­hirm für Eu-staaten, die wegen der Corona-krise Schwierigk­eiten am Kapitalmar­kt bekommen könnten. Die von neun Staaten, darunter auch Luxemburg, geforderte­n „Corona-bonds“, wodurch sich wirtschaft­lich stärkere Staaten wie Deutschlan­d mit schwächere­n verbünden und gemeinsame Anleihen ausgeben, wurden gestern nicht konkret besprochen. Dafür ist der Widerstand in Nordeuropa noch zu stark. Somit sind die Gräben der Eurokrise wieder geöffnet: Der vermeintli­ch tugendhaft­e „Norden“verweigert dem Süden die Solidaritä­t in Krisenzeit­en. Doch warnen einige, dass es nun keine Zeit für alte Streiterei­en gibt. „Die Kosten des Zögerns können irreversib­el sein“, meint etwa der ehemalige Chef der Europäisch­en Zentralban­k Mario Draghi.

Die Menschen werden sich daran erinnern, wer gehandelt hat – und wer nicht.

Ursula von der Leyen

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Foto: AFP „Die Geschichte schaut auf uns. Lassen Sie uns gemeinsam das Richtige tun“, so Eu-kommission­spräsident­in Ursula von der Leyen vor dem Eu-gipfel zur Corona-krise.

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