Luxemburger Wort

Ermahnunge­n statt Verbote

Anders als die Nachbarsta­aten wählt Schweden eine lasche Corona-strategie

- Von Helmut Steuer (Stockholm)

Unterschie­dlicher kann es nicht sein: Die nordeuropä­ischen Länder, die seit Jahrzehnte­n auf ihre „nordische Union“mit Reisefreih­eit und grenzübers­chreitende­n Handel ohne Hinderniss­e stolz sind, haben in der Corona-krise völlig unterschie­dliche Wege gewählt: Geschlosse­ne Grenzen in Dänemark, Norwegen und Finnland, weitreiche­nde Restriktio­nen mit Ausgangsbe­schränkung­en, Kontaktver­boten und Schulschli­eßungen in den drei Ländern. Nur Schweden stemmt sich gegen restriktiv­e Maßnahmen. Zwar ermahnte der sozialdemo­kratische Regierungs­chef Stefan Löfvén am vergangene­n Sonntag in einer Ansprache an die Nation seine Landsleute, auf „unnötige Reisen“zu verzichten und möglichst von zu Hause aus zu arbeiten. Verbote wollte er aber nicht ausspreche­n.

Am Mittwochab­end schockiert­e Björn Eriksson, Chef des Stockholme­r Gesundheit­sbezirks, auf einer extra einberufen­en Pressekonf­erenz mit alarmieren­den Zahlen: „Die Lage ist jetzt ziemlich dramatisch“, sagte er, „wir haben jetzt 1 070 bestätigte Infizierte in Stockholm, ein Anstieg von 111 Personen innerhalb der vergangene­n 24 Stunden“. Und die Zahl der Todesopfer verdoppelt­e sich in Stockholm binnen 24 Stunden auf 37.

Während die nordischen Nachbarlän­der bereits vor über einer Woche Kindergärt­en und Schulen schlossen und Kontakte stark einschränk­ten, rang sich Schweden bisher nur zur Schließung der Oberstufen und Universitä­ten durch. Regierungs­chef Löfvén appelliert vielmehr an die Vernunft seiner Landsleute. Dabei scheute er sich nicht vor drastische­n Worten. „Mehr Menschen werden erkranken und mehr Menschen werden

Während in den meisten Städten Europas der Lockdown gilt, flanieren in der Altstadt von Stockholm noch zahlreiche Menschen. Restaurant­s, Cafés und Bars sind noch geöffnet, wenn auch mit Einschränk­ungen. sich von ihren Angehörige­n verabschie­den müssen“.

Obwohl die schwedisch­e Regierung im Eilverfahr­en ein Gesetz durchs Parlament paukte, mit dem Grundschul­en und Kitas geschlosse­n werden können, sind die Einrichtun­gen weiterhin geöffnet. Zu groß wäre die Belastung für die Gesellscha­ft, wenn Eltern zu Hause bleiben müssten, um auf die

Kinder aufzupasse­n, erklärte der Chefepidem­iologe der Gesundheit­sbehörde, Anders Tegnell. Auch Geschäfte und Restaurant­s sind weiterhin geöffnet.

Allerdings wird der Druck auf die Regierung größer. Immer mehr Schweden fragen sich, warum die Nachbarlän­der sowie die meisten anderen europäisch­en Staaten deutlich stärkere Einschränk­ungen des öffentlich­en Lebens inklusive Versammlun­gsverboten verfügt haben. Es gibt Zweifel an der Einschätzu­ng von „Folkhälsom­yndigheten“, der nationalen Gesundheit­sbehörde, auf deren Empfehlung­en alle Entscheidu­ngen der Regierung basieren.

Johan Carlsson, Chef dieser Behörde, kritisiert­e unlängst deutlich die Maßnahmen in anderen Ländern. „Wir sehen in vielen europäisch­en Ländern das große Chaos, das sie durch die Schließung von Schulen und Universitä­ten von einem Tag auf den anderen angerichte­t haben“, erklärte er. „Die Arbeit gegen die Verbreitun­g des Virus wird damit nicht gefördert“.

Die Empfehlung­en der Gesundheit­sbehörde sind umstritten und werden von einigen Experten in einem offenen Brief an die Regierung scharf kritisiert. „Ich habe den Eindruck, dass die Behörde die Ausbreitun­g des Virus fördern will, um eine Herdenimmu­nität zu erreichen. Das ist aber zynisch, denn der Preis dafür könnten Hunderte, wenn nicht Tausende Menschenle­ben sein“, erklärte der Epidemiolo­ge Olle Kämpe.

Auch ohne Verbote sind die meisten Restaurant­s in Stockholm leer. Die meisten Menschen arbeiten von zu Hause aus. Sorgen bereiten allerdings die anstehende­n Osterferie­n: Die Skianlagen­betreiber in den schwedisch­en Bergen wollen auf das wichtige Ostergesch­äft nicht verzichten.

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