Wert und Unwert der Modelle
Warum intelligente „Navigation à vue“die richtige Politik in der Corona-krise ist
Das Gesundheitsministerium hat uni.lu beauftragt, ein Modell der Entwickung der Covid-19.pandemie für Luxemburg zu entwickeln. Dies ist überraschend, da es Modelle von Epidemien seit langer Zeit gibt. Man braucht sich nur im Internet umzusehen, dort wird man fast erschlagen von der Vielfalt der Modellierungen, die oft grafisch sehr beindruckend sind. Brent Frère vom Lilux Club hat übrigens schon am 13. März ein Modell zur Luxemburger Covid-19-entwicklung veröffentlicht.
Im Prinzip ist ein Modell einer Epidemie ein System von nicht linearen Differenzialgleichungen, einem Gebiet der Mathematik, dem jeder Student von Mint-fächern (Mathematik, Informatik, Naturwissenschaft und Technik) in seinen ersten Jahren begegnet. In den 1950er- und 1960er-jahren war die Lösung dieser Gleichungssysteme die Hauptaufgabe der analogen Computer (einige sind im Computarium des Lycée classique de Diekirch ausgestellt). So zeigt zum Beispiel Hitachi in seiner Broschüre vom analogen H-200X- Computer (ca. 1967) ein Beispiel zur Lösung eines solchen Epidemiemodells (siehe meteolcd.wordpress.com). Heute werden diese Systeme auf digitalen Computern mit Software-packages wie zum Beispiel Simulink oder Mathematica gelöst. [...] Grob gesprochen kann man behaupten, dass jedes einigermaßen vernünftige Modell die Vergangenheit sehr gut wiedergibt. Es sind nämlich die vergangenen Zahlen, die die unbekannten Parameter wie Begegnungsrate und Ansteckungswahrscheinlichkeit durch Regressionsrechnungen erstellen. Diese Berechnungen sind jedoch unscharf, sodass die Voraussagen wie beispielsweise „Wie ist die Lage in hundert Tagen?“ungenau sein müssen. Ein Beispiel: Am 10. März ist in Italien der Schätzungsbereich der Gesamttodesfälle nach 100 Tagen -1,7 bis +2,4 Millionen. Abgesehen davon, dass ein negativer Wert sinnlos ist, ist auch die Obergrenze absolut unbrauchbar, da mit Sicherheit übertrieben hoch. Nach 24 Tagen Pandemie (20. März) verringert sich das Intervall auf rund 26 000 bis 67 000 Fälle. Mit fortschreitender Entwicklung und mehr Daten wird dieses Intervall in der Tendenz kleiner, und die Schärfe der Voraussage der maximalen Todesfälle nimmt zu.
Damit zeigt sich aber auch die Achillesferse der Modellierung: Am Anfang der Epidemie, wenn die politischen Instanzen scharfe Voraussagen am nötigsten hätten, sind diese praktisch nicht zu gebrauchen. Mit fortschreitender Entwicklung werden zwar die Voraussagen besser, aber ihr Gebrauchswert nimmt ab. Modellieren ist eine wichtige Beschäftigung, und in vielen Bereichen stehen Modelle am Anfang einer (technischen) Entwicklung. Ein moderner Flugzeugflügel könnte nicht durch Versuche allein gebaut werden, sondern das Modell der Luftströmung bedingt die Entscheidungen zur Geometrie. Aber hier sind es physikalische Gesetze, die das Modell definieren.
Bei einer Epidemie hängen viele Parameter vom Verhalten der Menschen, von sich dauernd ändernden Vorgaben und klinischer Verfügbarkeit ab. Man kann also hier von den Modellen keine Wunder erwarten, und vor allem nicht die politischen Entscheidungen an die Modelle abtreten. Ich glaube, dass im Moment die intelligente „navigation à vue“der Instanzen die richtige Politik ist. Vor allem sind es die Ärzte, das Pflegepersonal, die Klinikverwalter, die die genauen Zahlen kennen und ihre Entwicklung mindestens kurzfristig abschätzen können. Eine rasche und dynamische Anpassung kann nicht durch ein Modell ersetzt werden. Es bleibt, dass Modelle die Grenzen dieser Anpassung grob festlegen können, und damit sind sie sicher nicht wertlos.
Francis Massen, Physiker i. R. und Leiter von meteolcd,
Diekirch