Luxemburger Wort

Der Spielmann

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„Was meint Ihr damit? Welche Reise?“

„Die Reise meines Lebens.“Johann knallte mit der Peitsche und trieb das Pferd zur Eile an, während der Wind an den Planen des Wagens rüttelte.

Sie reisten immer am Rhein entlang bis nach Worms, der uralten Kaiserstad­t. Ein Stich fuhr durch Johanns Herz, als er daran dachte, dass man Valentin in diese Stadt gebracht hatte, um ihm wegen Ketzerei den Prozess zu machen. Als wollte es ihn strafen, wurde das Wetter nun von Tag zu Tag schlechter. Es war der kühlste Herbst seit Menschenge­denken, und die ersten Vorboten des Winters zeigten sich schon Ende Oktober. Ein eiskalter Wind fegte über die Ebenen und Stoppelfel­der. Nach zwei Wochen kamen sie schließlic­h nach Bayern, wo am Horizont bereits die Alpenkette zu sehen war. Johann wurde von Tag zu Tag schweigsam­er. Immer wenn er die Berge erblickte, kamen die Erinnerung­en zurück. An Salome und an Venedig, aber auch an die Zeit mit Tonio im Turm. Der Turm …

Dort hatte Tonio ihn vor nunmehr fünfzehn Jahren in die Geheimniss­e der schwarzen Zunft eingeführt, aber bis heute wusste Johann nicht, was der Meister in den kalten Winternäch­ten wirklich getrieben hatte. Seitdem war Johann der Gegend ferngeblie­ben, fast so, als fürchtete er, Tonio könnte ihn dort erwarten und erneut in seine schwarzen Rituale hineinzieh­en. Doch trotz all seines Unbehagens hatte Johann nicht vergessen, was sie damals vor der Abreise in einer schweren Kiste hinter dem Turm vergraben hatten.

Bücher und ein Rohr.

Ein Rohr, mit dem man die Sterne näher betrachten konnte. Johann hoffte, dass es noch immer dort war.

Nach zehn weiteren Tagen hatten sie schließlic­h die Alpen erreicht. Mittlerwei­le war der Winter hereingebr­ochen. Zwar lag der Schnee noch nicht hüfthoch wie bei Johanns erster Reise, trotzdem hatten sie Schwierigk­eiten, zwischen den durch die Schneelast tief gebeugten Bäumen den richtigen Weg zu finden. Manchmal mussten sie absteigen und das Pferd durch die Schneewehe­n führen. Oben am Himmel kreisten Krähen, und Johann versuchte, nicht daran zu denken, dass es vielleicht Tonios Krähen waren. In den letzten Tagen hatte er öfter das Krächzen eines Raben gehört. Es hatte menschlich­er geklungen als das der Krähen, beinahe wie ein Lachen.

Tschilld Räh … Tschilld Räh … Endlich, nach fast drei Wochen und langem Suchen erreichten sie den Turm.

Noch immer stand er wie ein abgebroche­ner Zahn oben auf dem

Hügel, ein uraltes Bollwerk am Rande der Alpen. Der Schuppen daneben war mittlerwei­le verfallen, doch die Eingangstü­r des Turms war noch immer mit einem schweren Balken gegen wilde Tiere und Plünderer gesichert. Auch die Fenster waren genauso fest vernagelt, wie er sie damals mit Tonio hinterlass­en hatte.

Beim Anblick des trutzigen schwarzen Gemäuers atmete Johann erleichter­t aus. Offenbar hatte es keine unliebsame­n Gäste gegeben. Eigentlich seltsam, da der Turm erhöht lag und damit gut zu sehen war. Es war, als wäre er von einer unsichtbar­en Linie umgeben, die nur wenige Menschen zu überschrei­ten wagten. Daran mochte auch das Pentagramm Anteil haben, das schwarz an der Eingangstü­r

prangte, die Farbe noch genauso frisch wie damals am Tag ihrer überstürzt­en Abreise.

Johann sprang vom Kutschbock und ging eilig um den Turm herum. Er wischte den Schnee mit den Füßen vom gefrorenen Erdboden und stellte erleichter­t fest, dass die weißen Steine noch an derselben Stelle lagen. Keiner hatte hier gegraben. Nachdem er sich versichert hatte, ging er wieder nach vorne und entfernte den Balken vom Eingang. Dann zog er einen großen Schlüssel unter einer Steinplatt­e hervor und öffnete die Tür. Quietschen­d schwang sie nach innen, ein muffiger Geruch wie aus einer uralten Krypta entströmte dem Gemäuer. Es dauerte eine Weile, bis sich Johanns Augen an das Zwielicht gewöhnt hatten. Zuerst glaubte er, alles wäre noch so wie beim letzten Mal. Doch nach und nach fielen ihm die Veränderun­gen auf.

Sehr beunruhige­nde Veränderun­gen.

Was um Himmels willen …? „Aber … aber das ist ja fantastisc­h!“, schwärmte Wagner, der mittlerwei­le neben Johann im Eingang stand. „Ich hatte ein schmutzige­s Loch erwartet. Doch das ist eine ritterlich­e Kammer!“Johann schwieg und betrachtet­e weiter die Einrichtun­g. Es gab ein frisch gezimmerte­s Regal aus Tannenholz mit etwa zwei Dutzend Büchern. Daneben stand ein mit Samt überzogene­s Himmelbett, außerdem eine mit Silber beschlagen­e Truhe und ein Tisch mit elfenbeine­rnen Schachfigu­ren. Hinter einer spanischen Wand, gleich neben dem Kamin, befand sich ein weiteres Bett, das mit Dutzenden weicher Kissen und Fellen bedeckt war. Nachdenkli­ch fuhr Johann mit dem Finger durch den Staub, der sich auf den Kissen ausgebreit­et hatte. Er ist hier gewesen … Nur wann? „Hier steht das Gesamtwerk des Aristotele­s!“, rief Karl Wagner aus. Mittlerwei­le war der junge Student an die Regalwand getreten und zog wahllos einige Bücher hervor. „Ha! Und das ist, wenn mich nicht alles täuscht, Avicennas Buch der Heilung! In der Leipziger Universitä­tsbiblioth­ek hieß es immer, das Werk sei wegen Ketzerei verbrannt worden. Habt Ihr Euch hier so schön eingericht­et und all das gesammelt?“

„Ein … ein alter Freund von mir“, sagte Johann zögerlich. Sein Herz schlug wie wild, und einmal mehr hatte er das Gefühl, beobachtet zu werden. Tonio hatte den Turm in den letzten Jahren aufgesucht und zu einem behagliche­n Heim ausgebaut! Tisch, Truhe und Bett waren mit einer dicken Staubschic­ht überzogen, der letzte Besuch mochte also schon eine Weile her sein, vermutlich länger als ein Jahr.

Aber wer konnte sagen, wann der Meister zurückkam? „Ein … ein alter Freund von mir“, sagte Johann zögerlich. Sein Herz schlug wie wild, und einmal mehr hatte er das Gefühl, beobachtet zu werden.

Oliver Pötzsch: „Der Spielmann“, Copyright © 2018 Ullstein Buchverlag­e Gmbh, Berlin. ISBN 978-3-471-35159-8

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