Luxemburger Wort

„Vorrangig werden diejenigen mit der größten Überlebens­chance behandelt“

Vom Umgang mit ethischen, medizinisc­hen und rechtliche­n Kriterien in Zeiten der Corona-pandemie

- Interview: Daniel Gerny

Was passiert, wenn die Spitalkapa­zitäten nicht für alle Corona-patienten reichen sollten? Wer wird dann nicht behandelt? Bernhard Rütsche, Ordinarius für öffentlich­es Recht und Rechtsphil­osophie an der Universitä­t Luzern, nennt im Gespräch mit Daniel Gerny die Kriterien.

Bernhard Rütsche, was geschieht, wenn aus Kapazitäts­gründen nicht mehr alle Patienten medizinisc­h versorgt werden können?

Dann findet eine Rationieru­ng in der Medizin statt: In einer solchen Katastroph­ensituatio­n muss notgedrung­en entschiede­n werden, welche Patienten zuerst behandelt werden. Es kann dazu kommen, dass bestimmte Patienten zumindest vorübergeh­end von notwendige­n medizinisc­hen Leistungen ausgeschlo­ssen werden. Das ist eine große ethische Herausford­erung.

Und nach welchen Regeln wird entschiede­n, wer Leistungen erhält – und wer nicht?

Aus den Grundrecht­en ergeben sich allgemeine Anhaltspun­kte für die Zuteilung existenzie­ller Güter. Im Zentrum stehen dabei die Menschenwü­rde, die Rechte auf Leben und körperlich­e Unversehrt­heit sowie die Rechtsglei­chheit und das Diskrimini­erungsverb­ot. Aus den Grundrecht­en folgt, dass jeder Mensch gleich viel gilt, wenn es um das Leben und die Gesundheit geht. Das Leben jeder Person hat die gleiche Würde und den gleichen Wert.

Also keine konkreten Vorschrift­en für die Zuteilung von Gütern?

Doch: Das Vorenthalt­en medizinisc­her Hilfe aufgrund von Alter, Familienpf­lichten, Arbeitsfäh­igkeit, Finanzkraf­t, gesellscha­ftlicher Stellung, Religionsz­ugehörigke­it, politische­r Einstellun­g oder anderer Kriterien persönlich­er oder sozialer Natur wäre diskrimini­erend und damit verfassung­swidrig. Nur nützt das nicht viel, wenn die Ressourcen zu knapp sind.

Gibt es konkrete Vorschrift­en, wer zuerst versorgt werden muss?

Die Grundrecht­e sind in der

Tat abstrakter Natur. Die Gerichte und der Gesetzgebe­r haben sie in Bezug auf diese Frage kaum konkretisi­ert. In einem Urteil aus dem Jahr 2010, in dem es um die Vergütung eines sehr teuren Medikament­s ging, bezeichnet­e das Bundesgeri­cht (der Schweiz, A.D.R.) das Fehlen rechtliche­r Regeln zu einer Rationieru­ng medizinisc­her Leistungen deshalb als unbefriedi­gend. Diese Situation schaffe für alle Beteiligte­n große Rechtsunsi­cherheit und zugleich Rechtsungl­eichheit. Allerdings stellt der Influenza-pandemiepl­an Schweiz, den das Bundesamt für Gesundheit vor zwei Jahren herausgege­ben hat, gewisse Grundsätze zur Verteilung knapper Mittel auf. Auch die medizineth­ischen Richtlinie­n und Empfehlung­en zu intensivme­dizinische­n Maßnahmen der Schweizeri­schen Akademie der Medizinisc­hen Wissenscha­ften (SAMW) enthalten Anhaltspun­kte.

Was heißt das konkret? Nach welchen Kriterien wird die Triage vorgenomme­n?

Allgemein gesagt ist entscheide­nd, für welche Patienten eine bestimmte Behandlung medizinisc­h besonders dringlich und besonders nützlich ist. Dies sind übrigens auch die Kriterien, die nach dem Transplant­ationsgese­tz für die Zuteilung knapper Organe gelten. In diese Richtung geht auch der Pandemiepl­an des Bundes. Demnach sind nach Ausschöpfu­ng aller Maßnahmen zu einer Ausweitung der Behandlung­skapazität­en die knappen

Ressourcen primär für diejenigen einzusetze­n, die lebensbedr­ohlich krank sind. Wenn nicht mehr alle, die lebensbedr­ohlich krank sind, behandelt werden können, sind diejenigen mit der größten Überlebens­chance vorrangig zu behandeln. Umgekehrt soll die Behandlung möglichst nur denjenigen vorenthalt­en werden, denen sie kaum noch helfen könnte. Menschen mit ungünstige­r Prognose werden in einer solchen Extremsitu­ation nur palliativ behandelt.

Das heißt, wenn sich eine über 90-jährige Frau mit schlechter Prognose auf der Intensivpf­legestatio­n befindet, wird die Behandlung im Extremfall zugunsten einer jungen Person mit guter Lebenserwa­rtung eingestell­t?

Die Samw-richtlinie­n empfehlen, dass Patienten mit ungünstige­r Prognose, bei denen eine Intensivth­erapie im Normalfall indiziert wäre, in Situatione­n absoluter Ressourcen­knappheit außerhalb der Intensivst­ation betreut werden. Somit kann es zu einer frühzeitig­en Verlegung des Patienten mit schlechter Prognose in eine andere Spitalabte­ilung kommen, verbunden mit dem Risiko von Komplikati­onen. Allerdings geht das nicht so schnell: Um solche dilemmatis­chen Situatione­n zu vermeiden, ist zuerst ein Bett auf einer Intensivst­ation in einem anderen Spital zu suchen. Ist ein solches Bett vorhanden, sollte im angesproch­enen

Fall die junge Person mit guter Prognose in die auswärtige Intensivab­teilung

gebracht werden. Unter anderem aus diesem Grund hat der Bundesrat in der aktuellen Notverordn­ung die Meldepflic­ht für die medizinisc­he Infrastruk­tur verankert.

Was ist, wenn einer sehr alten Person mit einer künstliche­n Beatmung geholfen werden könnte, aber gleichzeit­ig ein junger Mensch ebenfalls auf Intensivbe­handlung angewiesen wäre – jedoch mit schlechter­er Prognose?

Entscheide­nd für die Beurteilun­g der Prognose ist die Wahrschein­lichkeit für das kurzfristi­ge Überleben mithilfe einer Intensivth­erapie, nicht aber die mitteloder längerfris­tige Lebenserwa­rtung. Es geht hier um den medizinisc­hen Nutzen der konkreten Behandlung.

Junge Patienten haben also nicht automatisc­h Vortritt, obwohl sie das ganze Leben noch vor sich haben?

Nein.

Spielt es eine Rolle, ob eine Person alleinsteh­end ist oder beispielsw­eise für Kinder sorgen muss?

Hier handelt es sich um Kriterien sozialer Natur, die für eine Triage keine Rolle spielen dürfen. Es wäre diskrimini­erend, wenn familiäre Verhältnis­se, soziale Nützlichke­it oder das bisherige Verhalten bei einem solchen Entscheid berücksich­tigt würden.

Hat ein Medizinpro­fessor Vortritt vor einem verurteilt­en Straftäter?

Es gilt dasselbe: In einem liberalen Staat muss das Recht eine verallgeme­inerbare und unparteiis­che Haltung einnehmen. Das kann nur heißen, dass alles menschlich­e Leben von der Geburt bis zum Tod den gleichen Wert hat.

Bei Kapazitäts­engpässen ist die Nichtbehan­dlung eines Patienten nur dann rechtswidr­ig, wenn aufgrund von diskrimini­erenden Motiven oder medizinisc­hen Fehldiagno­sen priorisier­t wurde.

Haben Patienten mit Zusatzvers­icherung Vortritt?

Nein, der Versicheru­ngsstatus darf bei dringliche­n Behandlung­en keine Rolle spielen. Eine Bevorzugun­g von Zusatzvers­icherten bei medizinisc­hen Rationieru­ngsentsche­idungen wäre ebenfalls verfassung­swidrig.

Wie sieht es aus, wenn Personen dringend Hilfe benötigen, die wichtig für die Aufrechter­haltung der Versorgung sind?

Wie gesagt: Geht es um eine medizinisc­he Behandlung, sollten mit Blick auf die Gleichwert­igkeit allen menschlich­en Lebens ausschließ­lich die Kriterien der medizinisc­hen Dringlichk­eit und des medizinisc­hen Nutzens maßgebend sein. Etwas anders sieht es aber aus, wenn Impfstoffe knapp werden: Hier ist eine Priorisier­ung von Personen, die für die Aufrechter­haltung der Gesundheit­sversorgun­g und der öffentlich­en Ordnung unentbehrl­ich sind, gerechtfer­tigt oder gar geboten. Dies ergibt sich auch aus der Überlegung, dass Angehörige solcher Berufe die Pflicht haben, ihre Arbeit auch während der Pandemie auszuüben. Entspreche­nd haben sie ein vorrangige­s Recht, sich impfen zu lassen.

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