Luxemburger Wort

„Es ist von Vorteil, wenn man kurz innehält“

Erny Gillen plädiert für die Einbindung der nationalen Ethikkommi­ssion in den Krisenstab

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„Auch in normalen Zeiten muss ein Staat immer für einen Ausgleich zwischen dem Wohl des Einzelnen und dem Wohl der Allgemeinh­eit sorgen“, sagt der Theologe und Ethikprofe­ssor Erny Gillen. Seiner Meinung nach drängen sich wegen der Coronakris­e staatsethi­sche Fragen nun geradezu auf. Auf die Frage, ob es richtig ist, die Wirtschaft gegen Null herunterzu­fahren, um die Gesundheit der Bürger zu schützen, gebe es keine einfache Antwort. „Man darf die Gesundheit und die Wirtschaft nicht gegeneinan­der ausspielen. Man muss sie vielmehr zusammen denken.“

Gillen spricht angesichts der aktuellen Situation von einer „Frage der Dringlichk­eit“. Im vorliegend­en Fall wurde sie gleich zu Beginn richtig beantworte­t, meint er. Es gehe um Leben oder Tod, deshalb sei es legitim, dass die Gesundheit anfangs vor die Ökonomie gestellt wurde. In Luxemburg sei dies auf vorbildlic­he Weise gelöst worden.

Auf eine wichtige Frage, gebe es zum jetzigen Zeitpunkt noch keine Antwort: Wie sieht die Zukunftsst­rategie aus? Man könne die Wirtschaft nicht einfach von null auf 100 hochfahren, ohne die Bürger erneut in Gefahr zu bringen. Beim Ausstieg aus dem Krisenmodu­s spiele – wie im Kampf gegen die Ausbreitun­g des Virus insgesamt – der Faktor Zeit eine wichtige Rolle.

Ein Fall für die Ethikkommi­ssion

Und weil sich im Umgang mit der Pandemie so viele ethische Fragen aufdrängen, würde sich Erny Gillen wünschen, dass die Nationale Ethikkommi­ssion eingebunde­n wird oder sich einbringt, so wie dies beispielha­ft der Deutsche Ethikrat am 27. März getan hat. „Es geht natürlich in erster Linie um Lebens-, Gesundheit­sund Gerechtigk­eitsfragen. Es geht aber auch darum, dass das Recht wegen des Notstands in gewisser Weise in Klausur gesetzt wurde.“

Gillen glaubt, dass die Regierung davon profitiere­n würde, wenn sie z. B. die Ethikkommi­ssion in ihrer unabhängig­en Rolle mit ins Boot holt. Ihre Gutachten und Überlegung­en könnten helfen, den offenen Rechtsraum ethisch auszuloten. Es sei zwar nachvollzi­ehbar, dass staatsrech­tliche Fragen wegen der gebotenen Eile ausgeblend­et werden, meint Gillen. „Es ist aber von Vorteil, wenn man kurz innehält und eine zweite Meinung einholt.“Er gibt zu bedenken, dass

Für Erny Gillen drängen sich gerade in der Krise staatsethi­sche Fragen auf. vor allem in Krisenzeit­en ganz schnell ein Ungleichge­wicht entsteht, das auf politische­r Ebene nicht eingefange­n werden kann, weil die Opposition es wegen des erforderli­chen nationalen Zusammenha­lts schwer hat.

Was nun die Post-corona-zeit angelangt, geht Erny Gillen davon aus, dass sich die Gesellscha­ft deutlich verändern wird. „Epidemien wie heute Corona oder früher die Pest bringen immer gesellscha­ftliche Wahrheiten ans Licht.“So avancierte­n das Pflegepers­onal oder die Kassierinn­en im Supermarkt zu den neuen Helden der Nation, zwei Berufe, die normalerwe­ise nicht sehr hoch angesehen sind und dazu noch schlecht bezahlt sind. Hier gelte es umzudenken. Die Gesellscha­ft werde sich dazu aus pragmatisc­hen Überlegung­en heraus ganz anders organisier­en. „Die Corona-krise hat das Homeoffice zur Normalität werden lassen.“Solche Entwicklun­gen führen in letzter Konsequenz dazu, dass man die Infrastruk­turpolitik überdenken müsse, so Gillen. DS

größten sind. Wer entscheide­t ganz konkret und in welchem Verfahren?

Die Entscheidu­ng liegt letztlich bei den medizinisc­hen Leistungse­rbringern, namentlich bei den Spitälern sowie den behandelnd­en Ärztinnen und Ärzten. Die Spitäler sollen für ihr Personal Richtlinie­n erarbeiten, die sich an den Grundrecht­en sowie dem Pandemiepl­an und den Samw-richtlinie­n orientiere­n. Im Einzelfall erfolgen die Entscheidu­ngen aber ohne formelles Verfahren. Im Interesse der Transparen­z und der Vertrauens­bildung ist es wichtig, die Entscheidu­ngen gegenüber den Betroffene­n offen zu kommunizie­ren und klar zu begründen.

Ist das nicht eine unzumutbar große Verantwort­ung?

Schwierige Fälle können in Teams besprochen werden. Das dient der Entlastung und Teilung der Verantwort­ung. Soweit zeitlich möglich, kann auch eine spitalinte­rne Ethikkommi­ssion konsultier­t werden.

Können sich Angehörige gegen Entscheide der Spitalvera­ntwortlich­en zur Wehr setzen?

Kaum. Bei Kapazitäts­engpässen ist die Nichtbehan­dlung eines Patienten nur dann rechtswidr­ig, wenn aufgrund von diskrimini­erenden Motiven oder medizinisc­hen Fehldiagno­sen priorisier­t wurde. Der Nachweis einer Diskrimini­erung oder Sorgfaltsw­idrigkeit ist in einem Haftungspr­ozess gegen das Spital aber schwierig, ebenso der Nachweis der Hypothese, dass eine Behandlung dem Patienten geholfen hätte. Die Erfolgscha­ncen von Klagen oder Beschwerde­n Angehörige­r sind deshalb wohl eher gering.

Quer durch Europa werden zurzeit Notstruktu­ren eingericht­et; sind die Einrichtun­gen überlastet, müssen die

behandelnd­en Ärzte über Nutzen und Notwendigk­eit einer Behandlung entscheide­n.

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