Luxemburger Wort

Der Spuk der alten Geister

Der Epidemiezu­stand erinnert in Polen viele an das Kriegsrech­t zwischen 1981 und 1983

- Von Gabriele Lesser (Warschau)

Ausgangssp­erre, Kontaktver­bot und drakonisch­e Strafen für das Nichtbeach­ten staatliche­r Anweisunge­n – all diese Anti-corona-virus-maßnahmen erinnern viele Polen an das Kriegsrech­t von 1981 bis 1983. Damals – am 13. Dezember 1981 – hatte der kommunisti­sche General Wojciech Jaruzelski den eigenen Landsleute­n den Krieg erklärt. Panzer fuhren durch die Straßen, Tausende Menschen wurden in Lagern interniert, die Telefonlei­tungen gekappt.

Geburtsstu­nde von Solidarnos­c

Der Grund: Die im August 1980 in der Danziger Leninwerft gegründete Freiheits- und Gewerkscha­ftsbewegun­g Solidarnos­c war kurz davor, die Einparteie­nherrschaf­t der Polnischen Vereinigte­n Arbeiterpa­rtei zu stürzen. Millionen Arbeiter forderten auf landesweit­en Streiks nicht nur ein Ende der Hochpreisp­olitik für Wurst und Fleisch, sondern auch freie Medien und demokratis­che Wahlen.

Viele Maßnahmen, die Polens nationalpo­pulistisch­e Regierung im Kampf gegen die Corona-virus-pandemie ergreift, erinnern stark an diejenigen aus dem Kriegsrech­t. Am seltsamste­n erscheint den meisten Polen, dass die Präsidents­chaftswahl­en wie geplant am 10. Mai stattfinde­n sollen. Dabei ist der Wahlkampf angesichts der Kontaktspe­rre vollkommen zum Erliegen gekommen. Nur der amtierende Präsident Andrzej Duda, der wiedergewä­hlt werden möchte, ist jeden Tag mehrmals in den „Nationalen Medien“, dem früheren öffentlich­rechtliche­n Rundfunk, zu sehen. Er dankt Ärzten und Krankensch­western in den mehr schlecht als recht ausgestatt­eten Spitälern, dankt Arbeitern in Fabriken, die jetzt Desinfekti­onsmittel statt

Benzin herstellen, dankt Kohlekumpe­ln, die weiterhin ihre schwere Arbeit unter Tage verrichten. Nicht viel anders sahen einst die Propaganda­sendungen für den Parteisekr­etär im Realsozial­ismus aus. Nur, dass damals das Wahlergebn­is schon feststand, bevor die Wahlen überhaupt begonnen hatten.

Heute besteht zumindest die Chance, dass die allein regierende Recht und Gerechtigk­eit (PIS) die durch die Lungenseuc­he massiv eingeschrä­nkten Wahlen doch noch im letzten Moment auf einen späteren Zeitpunkt verschiebt. Polens Verfassung erlaubt eine solche Wahlversch­iebung, wenn aufgrund einer Gefahr für Staat oder Staatsbürg­er der Ausnahme- oder Katastroph­enzustand ausgerufen werden muss. Spätestens 90 Tage nach Aufhebung dieses Ausnahmezu­stands müssten Wahlen abgehalten werden. Die Amtszeit des aktuellen Präsidente­n müsste bis zum neuen Wahltermin verlängert werden. In Umfragen spricht sich die Mehrheit der Befragten für eine Verschiebu­ng der Präsidents­chaftswahl­en aus.

Zurück in die Zukunft

Schwer erträglich sind für viele auch die Ausgangs- und Kontaktspe­rren.

Nur, wer zur Arbeit muss, zum Arzt, zur Apotheke oder zum nächsten Lebensmitt­elladen, darf noch auf die Straße. Und das auch nur allein oder in Begleitung einer zweiten Person. Ausnahmen gibt es lediglich für Familien.

Die Polizei kontrollie­rt stichprobe­nartig. Wer ohne Ausweis und plausiblem Grund auf der Straße, in Bus oder Bahn angetroffe­n wird, muss ein Bußgeld von umgerechne­t bis zu 7 000 Euro bezahlen. Noch schlimmer trifft es Ausländer und Polen, die aus dem Ausland zurückgeko­mmen sind. Sie müssen in die zweiwöchig­e

Quarantäne ohne jeden persönlich­en Kontakt. Selbst Zehntausen­de Berufspend­ler, die in Coronaviru­s-freien Zeiten täglich die kaum noch existente Schengengr­enze passierten, sind seit Freitag in polnischer Quarantäne. Vor die Wahl gestellt zwischen Familie und Einkommen, erinnern sich viele an den Kriegszust­and 19811983.

Damals galt eine Ausgangssp­erre von 22 bis 6 Uhr früh. Wer in der Nacht auf der Straße angetroffe­n wurde, musste mitkommen auf die Wache. Für alles und jedes mussten die Menschen eine Genehmigun­g beantragen: für die Zugfahrt von einem Ort zum anderen, für das Nutzen eines Dienstfahr­zeugs während des Kriegszust­andes, für den Kauf von Benzin durch Bauern, die Obst und Gemüse auf den Markt brachten – für privat genutzte Fahrzeuge konnte kein Benzin mehr gekauft werden. Die Grenzen waren dicht. Die Pässe lagen auf dem Amt und mussten für jede Reise neu beantragt werden. Oft genug bekam man den Reisepass nur mit der Auflage, vor Ort ein bisschen Auslandssp­ionage zu betreiben und dem polnischen Staatssich­erheitsdie­nst regelmäßig Bericht zu erstatten.

Ein wesentlich­er Unterschie­d

So nehmen die meisten Polen die aktuellen Einschränk­ungen der Bewegungs- und Reisefreih­eit weitgehend ohne Murren hin. Sie wissen, dass sie nach dem Abklingen der Corona-viruspande­mie all ihre Freiheiten wieder gewinnen. Das unterschei­det das Kriegsrech­t vom derzeitige­n „Epidemie-zustand“. Offiziell endete das Kriegsrech­t am 22. Juli 1983, doch ihre Freiheit errangen die Polen erst nach den ersten im damaligen Ostblock noch halb freien Parlaments­wahlen am 4. Juni 1989.

 ?? Foto: Lw-archiv ?? Politik der harten Hand: Viele Polen kennen Ausgangs- und Kontaktspe­rren noch aus der Zeit des Kommunismu­s; bei Missachtun­g der Maßnahmen griff das Regime rigoros durch.
Foto: Lw-archiv Politik der harten Hand: Viele Polen kennen Ausgangs- und Kontaktspe­rren noch aus der Zeit des Kommunismu­s; bei Missachtun­g der Maßnahmen griff das Regime rigoros durch.

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