Tödliche Gefahr für indigene Gemeinden
In den abgelegenen Siedlungen wäre ein Ausbruch der Covid-19-krankheit ein absolutes Desaster
Kanada ist im Abwehrkampf gegen das Corona-virus. Für eine Bevölkerungsgruppe wäre der großflächige Ausbruch der Lungenkrankheit ein Desaster: Die meist abgelegenen Ureinwohnergemeinden sind besonders schlecht auf eine Epidemie vorbereitet. Mangelhafte Gesundheitsdienste, beengte Wohnverhältnisse und ein latent schlechterer Gesundheitszustand vieler Menschen würden einen tödlichen Mix für die Ausbreitung des gefährlichen Virus unter den indigenen Völkern bilden.
Mehrere First Nations, wie die indianischen Nationen Kanadas genannt werden, haben für ihre Gemeinden und Siedlungsgebiete den Notstand erklärt. Die Berens River First Nation, 275 Kilometer nördlich von Winnipeg, errichtete an den Zufahrtsstraße zu ihrer Gemeinde Barrikaden. Die Misipawistik Cree-nation, etwa 400 Kilometer nördlich von Winnipeg, beschloss ebenfalls Einschränkungen für Reisen und Besuche. Nur in der Gemeinde Ansässige dürfen vorerst einreisen. „Wir sind sehr besorgt“, sagt der Chief, Häuptling Harold Turner.
Indigene sind anfälliger als der
Rest der Bevölkerung
„Wir können nicht darüber hinwegsehen, dass die indigenen Völker in Kanada anfälliger sind als die nicht-indigene Bevölkerung“, erklärt der für indigene Völker zuständige Bundesminister Marc Miller. Aus früheren Krisen wie der Lungenkrankheit SARS habe man gelernt, „aber die Realität ist, dass die indigene Bevölkerung in stärkerem Maße in beengten Wohnverhältnissen lebt, in höherem Maße durch chronische
Krankheiten belastet ist und in sehr abseits gelegenen isolierten Gemeinden lebt.“Miller teilte am Mittwoch mit, dass die Regierung umgerechnet rund 200 Millionen Euro bereitstelle, die an First Nations, Inuit- und Métis-gemeinden fließen werden. Die Métis sind ein indigenes Volk, das aus den Kontakten zwischen frühen Siedlern aus Europa und der indianischen Bevölkerung entstand und eine eigene Kultur und Sprache entwickelte.
Das Arktisgebiet Nunavut und die Nordwest-territorien verfügten bereits Einreisebeschränkungen. In diesen beiden nördlichen Gebieten Kanadas sowie im Yukon sind viele Gemeinden nur mit Flugzeug zu erreichen. Nur wenige Ärzte praktizieren in diesen Regionen, überwiegend in den drei Territorialhauptstädten Iqaluit, Yellowknife und Whitehorse. In den kleinen Gemeinden sind Krankenschwestern stationiert, die Basishilfe leisten können. Sollten Infektionen auftreten, ist Hilfe vor Ort kaum möglich. Wegen der Wohnraumnot würde es schwer sein, Menschen zu isolieren. Bis Mittwoch wurden in Yukon und den Nordwest-territorien zusammen lediglich vier Corona-infektionen bestätigt, in Nunavut noch keine. In Kanada wurden 3 400 Menschen positiv getestet.
Perry Bellegarde, der National Chief und Präsident der Assembly of First Nations, des Dachverbandes der indianischen Völker Kanadas,
dringt darauf, dass das Geld schnell an die indigenen Gemeinden fließt. Kanada müsse auf „die einzigartige Situation und den Bedarf an Hilfe für die Gemeinden reagieren.“Dazu gehört auch, dass die Menschen in zahlreichen indigenen Gemeinden nur eingeschränkt Zugang zu sauberem Wasser haben. Aufrufe, sich regelmäßig und oft die Hände zu waschen, können also nicht befolgt werden. In den isolierten Gemeinden des Nordens, in die alles eingeflogen werden muss, sind gesunde Lebensmittel sehr teuer. Natan Obed, Präsident der Inuitorganisation Inuit Tapiriit Kanatami/itk, forderte bei einem Treffen mit Premierminister Justin Trudeau ebenfalls, das Augenmerk
auf die besondere Lage der Gemeinden im Norden zu legen.
Indigene Gemeinden weisen eine höhere Zahl chronisch Kranker auf. Diabetis kommt häufiger vor als in der nicht-indigenen Bevölkerung. Der Welttuberkulosetag machte nun erneut darauf aufmerksam, dass Tuberkulose (TB) unter den Ureinwohnern Kanadas stark verbreitet ist. Die Inuit-gemeinden melden extreme Zahlen an Tuberkulosefällen. Als Trudeau vor einem Jahr Nunavut besuchte, erwähnte er auch die schockierende Zahl für „Inuit Nunangat“, die vier Inuit-regionen Kanadas: „Die Erkrankungsrate für Inuit in Inuit Nunangat ist 300-mal höher als für Kanadas nicht-indigene Bevölkerung. Das ist inakzeptabel.“
Tuberkulose hat Wurzeln in sozialer Ungleichheit
In Kanada leben etwa 65 000 Inuit in den Nordwest-territorien, in Nunavut, Nord-quebec und Labrador. 2017 meldeten diese Regionen 142 Tb-fälle. Dies wäre auf 100 000 Menschen umgerechnet eine statistische Erkrankungsrate von 205. Im Landesdurchschnitt hat Kanada nur 4,9 Erkrankungen auf 100 000 Menschen. Für Tb-erkrankte mit bereits geschädigten Lungen wäre der Virus schnell tödlich. TB habe „ihre Wurzeln in sozialer Ungleichheit“, mahnt Obed. „Inuit sind generell eine Hochrisiko-gruppe für Atemwegserkrankungen.“Soziale und ökonomische Ungleichheit würde dazu führen, „dass Inuit-gemeinden überproportional von Covid19 betroffen sein würden.“Wie Bellegarde fordert er daher, dass indigene Gemeinden eine Priorität bei der Bereitstellung von Hilfen haben sollten.