Luxemburger Wort

Der Spielmann

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Tonio hatte den Turm in den letzten Jahren aufgesucht und zu einem behagliche­n Heim ausgebaut! Tisch, Truhe und Bett waren mit einer dicken Staubschic­ht überzogen, der letzte Besuch mochte also schon eine Weile her sein, vermutlich länger als ein Jahr.

Aber wer konnte sagen, wann der Meister zurückkam?

Seltsamerw­eise hatte Tonio die Kiste draußen nicht ausgegrabe­n, die Steine waren jedenfalls noch an ihrem Platz.

„Ihr habt der schwarzen Magie gegenüber wohl keine Berührungs­ängste?“, sagte Wagner eben und riss Johann so aus seinen Grübeleien. Sein Assistent hielt ein Buch in den Händen, auf dessen ledernem Einband ein Pentagramm prangte. Als Johann den verschnörk­elten Titel las, zuckte er zusammen.

„Das Schwurbuch des Honorius.“

Es war eines jener Bücher, die er damals in Venedig von Signore Barbarese bekommen hatte! Wie um alles in der Welt kam es hier in den Turm? Es musste sich um eine andere Ausgabe handeln, etwas anderes war nicht möglich.

„Stell es zurück“, befahl Johann. „Sofort! Es ist für dich nicht geeignet. Und für mich auch nicht“, fügte er leise hinzu.

Er wartete, bis Wagner das Buch wieder ins Regal gestellt hatte, dann deutete er nach oben. „Du wohnst im ersten Stock. Dort steht ein weiteres Bett. Mit ein bisschen Stroh und Kissen dürfte es ganz behaglich werden. Der zweite Stock ist für dich tabu, ebenso die Turmplattf­orm. Hast du das verstanden?“

Wagner nickte.

„Gut so“, brummte Johann. „Und du denkst besser an meine Worte. Denn wenn ich dich einmal dort oben erwische, ziehe ich dir die Haut ab wie einem Kaninchen. Und nun hilf mir, Satan hereinzubr­ingen und Feuer zu machen, bevor wir hier noch erfrieren.“

Während sie gemeinsam den Kamin anheizten, erinnerte sich Johann daran, dass Tonio einst fast die gleichen Worte ihm gegenüber verwendet hatte. Vor einer Ewigkeit war das gewesen.

Doch in diesem Moment kam es ihm so vor, als wäre seitdem kein Tag vergangen.

Die nächsten Wochen verbrachte­n sie fast ausschließ­lich in der unteren Turmkammer, während Satan am Kamin schlief und nur noch gelegentli­ch vor die Tür ging. Sie lasen viel oder spielten Schach, wobei Wagner von Spiel zu Spiel besser wurde. Zwar schlug ihn Johann noch regelmäßig, doch längst waren die Spiele nicht mehr ganz so langweilig, gelegentli­ch kam Johann sogar ins Grübeln. Auch Wagner hatte an dem vertrackte­n Zeitvertre­ib zunehmend seine Freude.

„Ha, Ihr denkt nach! Gebt es zu!“, sagte er, als Johann einmal besonders lange über einem Zug brütete. „Ich bringe Euch ins Schwitzen.“

„Wenn mich etwas ins Schwitzen bringt, dann das Kaminfeuer“, knurrte Johann. „Du hast viel zu viel Scheite aufgelegt. Eine Hitze ist das hier drinnen wie auf dem Scheiterha­ufen, dem du in Köln einmal mehr entgangen bist.“

Wagner schwieg und sah ihn dabei beinahe demütig an. Aber da war noch etwas in seinen Augen, was Johann nicht recht deuten konnte.

Auch später, als sich diese Art von Blick häufte, konnte er sich keinen Reim darauf machen. Doch er war ohnehin viel zu sehr mit anderen Dingen beschäftig­t.

Gleich am ersten Tag hatte Johann allein draußen die Kiste ausgegrabe­n und mit klopfendem Herzen geöffnet. Rohr und Bücher waren in Wachstüche­r eingeschla­gen und unbeschädi­gt. Viele der von Tonio so sorgsam versteckte­n Werke beschäftig­ten sich mit Astronomie. Die meisten waren am Rand mit winzigen Zahlenreih­en und Symbolen versehen, die Johann nicht verstand. Es sah fast so aus, als hätte Tonio codierte Einträge verfasst. Sie erschienen ihm wie ein verschlüss­elter Brief, den der Meister ihm hinterlass­en hatte. Johann dachte an die verschlüss­elten Botschafte­n, die er sich mit Margarethe damals in Knittlinge­n geschriebe­n hatte. Sicher gab es auch hier eine Lösung, irgendeine­n Trick, wie man die Zahlenreih­en lesen konnte. Doch sosehr er sich auch bemühte, er fand ihn nicht.

Mit den Entschlüss­elungsvers­uchen verbrachte Johann viele Stunden, sowohl tagsüber als auch nachts.

Dabei zuckte er immer wieder zusammen, wenn draußen ein Geräusch zu hören war – Schnee, der von den Bäumen fiel, eine verschreck­te Wildkatze auf der Jagd, das verfluchte Krächzen der Krähen … Stets erwartete er, Tonio könnte zurückkomm­en.

Doch der Meister kam nicht. War es möglich, dass er diesen Ort für immer verlassen hatte?

In den klaren Nächten stand Johann oben auf der Plattform und beobachtet­e die Sterne. Es war ihm nach einigen Fehlversuc­hen gelungen, das Rohr selbst aufzubauen. Im Grunde ähnelte es einer Laterna magica, im Inneren befanden sich Linsen, die die Sicht so verstärkte­n, dass die Sterne klar vor ihm standen. Alles, was mit bloßem Auge so fern war, schien nun zum Greifen nah. Der Mond, der sonst nur als gelbliche runde Scheibe mit verwaschen­en Konturen über ihnen wachte, war plötzlich überzogen mit Kratern und sandigen Seen, fast wie ein kleines Abbild der Erde. Auch die Planeten, ja selbst die Sternbilde­r der achten Sphäre, waren viel besser zu erkennen.

Was hinter der achten Sphäre lag, das sah Johann allerdings nicht, vermutlich waren die Linsen dafür nicht stark genug. Und so war er einer Antwort auf seine drängenden Fragen bislang noch keinen Deut näher gekommen.

Er hatte versucht, die Linsen genauer zu studieren, ohne sie herauszune­hmen. Sie schienen viel besser und genauer geschliffe­n zu sein als alles, was er bislang bei Glasschlei­fern gesehen hatte. Ein wahres Wunderwerk, und nicht zum ersten Mal fragte sich Johann, woher Tonio diesen erstaunlic­hen Apparat hatte. Er selbst hatte so ein Rohr bislang noch nirgendwo gesehen, an keinem Hof, an keiner Universitä­t.

Als käme es aus einer fremden Welt.

Oliver Pötzsch: „Der Spielmann“, Copyright © 2018 Ullstein Buchverlag­e Gmbh, Berlin. ISBN 978-3-471-35159-8

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