Wo sind die Aliens?
Vor Jahren häuften sich Berichte über Entführungen durch Außerirdische – auch heute gibt es sie noch
Den Sommer 1986 wird Karl Grossmann nie mehr vergessen. „Ich hatte mir gerade ein neues Auto gekauft und wollte mit ihm eine Spritztour unternehmen“, erzählt der Us-amerikaner, der heute 69 Jahre alt ist und in Kalifornien lebt. „Also bin ich bis in den Yosemite-nationalpark gefahren und habe auf dem Rücksitz übernachtet.“Was dann geschah, darüber hat Karl Grossmann 30 Jahre lang geschwiegen – aus Scham, als Verrückter abgestempelt zu werden. Er hatte Angst, vor anderen als Depp dazustehen und Freunde und Familienmitglieder zu verärgern. Doch irgendwann hielt der Automechaniker das Schweigen nicht mehr aus.
Jetzt sitzt er bei seiner Therapeutin Laurie Mcdonald in Sacramento, um das Erlebte noch einmal Revue passieren zu lassen. Das Licht ist gedimmt, im Regal liegen Wolldecken, um Geborgenheit zu vermitteln. Grossmann atmet tief durch, dann fängt er mit leiser Stimme an zu erzählen.
„Mitten in der Nacht“, sagt er, „ist im Nationalpark eine Art Feuerball über den Bäumen erschienen.“Ein warmer, weißer Lichtstrahl habe ihn erfasst und „nach oben“gezogen. „So etwas Friedliches
habe ich noch nie gespürt“, sagt Grossmann. Doch schon wenige Minuten später bekam er es mit der Angst zu tun. „Ich lag auf einem Tisch, konnte mich nicht bewegen. Drei spindeldürre graue Wesen mit Mandelaugen standen um mich herum und untersuchten mich. Eines von ihnen sagte nur ein Wort: Züchtung.“
Grossmann ist nicht allein
Ist Karl Grossmanns Erlebnis ein Beweis für Aliens, die auf der Erde ihr Unwesen treiben? Oder nur ein Beispiel für seine blühende Fantasie? In den USA ist die Bevölkerung gespalten, was diese Frage angeht. Laut einer aktuellen Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Ipsos glauben 57 Prozent an intelligentes Leben auf anderen Planeten. 45 Prozent bejahten die Aussage „Ufos existieren und haben die Erde bereits besucht“. Ganz so allein, wie er sich 1986 fühlte, ist Grossmann heute also nicht mehr.
Trotzdem wagen es Menschen dieser Tage nur noch selten, ihre angeblichen Erfahrungen mit intergalaktischen Begegnungen preiszugeben. Ganz anders in den 1990er-jahren: Vor allem in den Vereinigten Staaten berichteten die Medien regelmäßig über Personen, die von Außerirdischen entführt und auf verschiedenste Weise gequält wurden – oder ebendies behaupteten. Die Mystery-serie „Akte X“brachte das Thema in Millionen von Wohnzimmern. Die Talkshow-moderatorin Oprah Winfrey lud Menschen ins Studio ein, die ihre Begegnungen der dritten Art schilderten.
1961 war das Ehepaar Betty und Barney Hill mit dem Auto von Montreal nach New Hampshire unterwegs, als ein unbekanntes Flugobjekt am Himmel auftauchte. Erst zu Hause fiel ihnen auf, dass sie sich an zwei Stunden ihrer Fahrt nicht erinnern konnten. Unter Hypnose konnten sie die Erinnerungslücken schließen: Sie seien in das Ufo transportiert und dort medizinisch untersucht worden, erzählten sie ihrem Psychiater, der stets an die Aufrichtigkeit seiner Patienten glaubte. Es folgten Zeitungsberichte, Bücher und eine Tv-verfilmung. Das Phänomen der Alien-entführungen war geboren. Und damit auch die Debatte darüber, ob die Berichte stimmten oder nicht.
Kritiker wie der Psychologe Leonard Newman von der University of Illinois, Chicago, sprachen von „falschen Erinnerungen, Fantasie und Tagträumen“. Andere Wissenschaftler hielten die Schilderungen für authentisch. Zumal seit den 1970er-jahren das Vertrauen in die amerikanische Regierung sichtbar gesunken war.
Der Vietnamkrieg und der Watergate-skandal hatten ihre Spuren hinterlassen. Wenn die Regierung in diesen Punkten so lügt, so die Annahme vieler Us-bürger, so tut sie es vielleicht ja auch in Bezug auf Aliens.
Mit John Mack beschäftigte sich in den 1990er-jahren ein renommierter Harvard-professor mit dem Phänomen, das anscheinend immer weiter um sich griff. Mack organisierte Konferenzen, bei denen sich Wissenschaftler verschiedener Disziplinen austauschten. In seinen Untersuchungen kam er zu dem Schluss, dass viele Personen, die von Alien-entführungen berichteten, unter posttraumatischen Belastungsstörungen litten. Sie zeigten ähnliche Symptome wie Soldaten, die im Krieg Traumatisches erlebt haben: Sie wurden von Erinnerungen und Flashbacks übermannt, konnten nicht mehr schlafen, waren gereizt und ängstlich. Ob dabei wirklich Außerirdische diese Symptome verursacht hatten, vermochte auch Mack nicht zu sagen. Er war jedoch zeit seines Lebens davon überzeugt, dass die Betroffenen selbst daran glauben.
Und heute? Funkstille. In den USA sind Außerirdische vor allem dort sichtbar, wo sie Geld bringen. In der Kleinstadt Roswell in New Mexico, wo 1947 ein Ufo abgestürzt sein soll, wirbt fast jedes Geschäft mit kleinen grünen Männchen. Auf den Straßenlaternen kleben Augen, damit sie wie Alien-köpfe aussehen. Und die Mcdonald’s-filiale wurde so gestaltet, dass sie einem Raumschiff ähnelt. Ernsthaft diskutiert wird über das Thema aber kaum noch. Selbst „Akte X“, einst der Gottesdienst für „Gläubige“, hatte sich irgendwann totgelaufen. Nach den Terroranschlägen von 9/11 sei „einfach nicht mehr die richtige Stimmung“da gewesen, erzählte der „Akte X“-produzent Chris Carter bei einem Treffen mit Fans im Jahr 2008.
Auch Spitzenpolitiker
Das bedeutet jedoch nicht, dass alle, die an Alien-entführungen glauben, ebenfalls vom Erdboden verschwunden sind. „Es betrifft noch immer sehr viele Menschen“, sagt Laurie Mcdonald, die Psychotherapeutin, die sich auf das Thema spezialisiert hat und zu deren Patienten auch Karl Grossmann gehört. In ihrer Praxis hängen zahlreiche Urkunden, die sie als Hypnotiseurin ausweisen – eine Technik, durch die Betroffene ihre Erinnerungen wiedererlangen sollen.
Mcdonald ist eine selbstbewusste Frau, die für ihre Arbeit brennt. „Die Leute haben es satt, dass sich die Mainstream-medien über sie lustig machen“, sagt sie. Deshalb redeten die meisten heute nur noch in Selbsthilfegruppen oder sozialen Netzwerken über das Erlebte.
Die Psychotherapeutin berichtet von 1 300 Fällen, die sich auf ihrem Schreibtisch stapeln. „Natürlich gibt es Leute, die auf Drogen sind und sich das Ganze einbilden“, räumt sie ein. Die meisten Schilderungen halte sie aber für authentisch. „Diese Menschen haben etwas Traumatisches erlebt. Unter Hypnose erzählen sie mir sehr detailliert, was ihnen widerfahren ist.“Zu ihren Patienten gehörten sowohl Männer wie Frauen, vom Hauswart bis zum Spitzenpolitiker, und sie kämen aus ganz verschiedenen Ländern.
Auch Wissenschaftler haben sich schon mit der Frage beschäftigt, welche Personengruppen am ehesten betroffen sind. Die Ergebnisse fielen unterschiedlich aus. Manche befanden, die Betroffenen hätten eine überdurchschnittlich rege Fantasie. Andere schlussfolgerten, es handle sich um Durchschnittsbürger mit intaktem Verstand. Wie viele Menschen tatsächlich von Außerirdischen entführt wurden – oder das glauben –, darüber gibt es keine Statistiken. Laurie Mcdonald geht von einer hohen Dunkelziffer aus. Sie ist allerdings nicht ganz objektiv. Auch sie sei als junge Frau von Aliens entführt worden, erzählt die Therapeutin: „Sie standen in meinem Schlafzimmer, ich hatte keine Angst – bis sie mit einer riesigen Nadel in meinen Bauchnabel eindrangen.“Kritiker halten solche Schilderungen für Schauergeschichten, mit denen Therapeutinnen wie Laurie Mcdonald vor allem eines machen: Geld.
Unter ihren Patienten genießt Mcdonald hingegen einen Heimvorteil. Sie tritt auf Ufo-kongressen auf, leitet eine Selbsthilfegruppe, hat demnächst ihre eigene Tvsendung. Sie ist eine von ihnen. Warum sollten Menschen die einzigen intelligenten Lebewesen im Universum sein?, lautet ihr Standpunkt. Und die Entführungen? „Die werden von verschiedenen Alienrassen durchgeführt“, sagt die Psychotherapeutin „Sie haben alle ihre eigenen Motive. Und natürlich verletzen sie damit unsere Menschenrechte.“
Karl Grossmann hat es geholfen, mit seiner Therapeutin über die verhängnisvolle Sommernacht im Yosemite-nationalpark zu sprechen. „Heute ist es mir egal, ob mich die Leute für verrückt halten“, sagt der 69-Jährige. Er sei ruhiger geworden, gelassener. „Die Angst ist jetzt viel geringer“, sagt er. „Ich weiß jetzt, dass da draußen mehr ist, als die meisten denken. Viel mehr.“
Die Leute haben es satt, dass sich die Mainstreammedien über sie lustig machen.
Laurie Mcdonald, Psychotherapeutin
Kritiker sprechen von falschen Erinnerungen, Fantasie und Tagträumen.