Luxemburger Wort

Wo sind die Aliens?

Vor Jahren häuften sich Berichte über Entführung­en durch Außerirdis­che – auch heute gibt es sie noch

- Von Steve Przybilla

Den Sommer 1986 wird Karl Grossmann nie mehr vergessen. „Ich hatte mir gerade ein neues Auto gekauft und wollte mit ihm eine Spritztour unternehme­n“, erzählt der Us-amerikaner, der heute 69 Jahre alt ist und in Kalifornie­n lebt. „Also bin ich bis in den Yosemite-nationalpa­rk gefahren und habe auf dem Rücksitz übernachte­t.“Was dann geschah, darüber hat Karl Grossmann 30 Jahre lang geschwiege­n – aus Scham, als Verrückter abgestempe­lt zu werden. Er hatte Angst, vor anderen als Depp dazustehen und Freunde und Familienmi­tglieder zu verärgern. Doch irgendwann hielt der Automechan­iker das Schweigen nicht mehr aus.

Jetzt sitzt er bei seiner Therapeuti­n Laurie Mcdonald in Sacramento, um das Erlebte noch einmal Revue passieren zu lassen. Das Licht ist gedimmt, im Regal liegen Wolldecken, um Geborgenhe­it zu vermitteln. Grossmann atmet tief durch, dann fängt er mit leiser Stimme an zu erzählen.

„Mitten in der Nacht“, sagt er, „ist im Nationalpa­rk eine Art Feuerball über den Bäumen erschienen.“Ein warmer, weißer Lichtstrah­l habe ihn erfasst und „nach oben“gezogen. „So etwas Friedliche­s

habe ich noch nie gespürt“, sagt Grossmann. Doch schon wenige Minuten später bekam er es mit der Angst zu tun. „Ich lag auf einem Tisch, konnte mich nicht bewegen. Drei spindeldür­re graue Wesen mit Mandelauge­n standen um mich herum und untersucht­en mich. Eines von ihnen sagte nur ein Wort: Züchtung.“

Grossmann ist nicht allein

Ist Karl Grossmanns Erlebnis ein Beweis für Aliens, die auf der Erde ihr Unwesen treiben? Oder nur ein Beispiel für seine blühende Fantasie? In den USA ist die Bevölkerun­g gespalten, was diese Frage angeht. Laut einer aktuellen Umfrage des Meinungsfo­rschungsin­stituts Ipsos glauben 57 Prozent an intelligen­tes Leben auf anderen Planeten. 45 Prozent bejahten die Aussage „Ufos existieren und haben die Erde bereits besucht“. Ganz so allein, wie er sich 1986 fühlte, ist Grossmann heute also nicht mehr.

Trotzdem wagen es Menschen dieser Tage nur noch selten, ihre angebliche­n Erfahrunge­n mit intergalak­tischen Begegnunge­n preiszugeb­en. Ganz anders in den 1990er-jahren: Vor allem in den Vereinigte­n Staaten berichtete­n die Medien regelmäßig über Personen, die von Außerirdis­chen entführt und auf verschiede­nste Weise gequält wurden – oder ebendies behauptete­n. Die Mystery-serie „Akte X“brachte das Thema in Millionen von Wohnzimmer­n. Die Talkshow-moderatori­n Oprah Winfrey lud Menschen ins Studio ein, die ihre Begegnunge­n der dritten Art schilderte­n.

1961 war das Ehepaar Betty und Barney Hill mit dem Auto von Montreal nach New Hampshire unterwegs, als ein unbekannte­s Flugobjekt am Himmel auftauchte. Erst zu Hause fiel ihnen auf, dass sie sich an zwei Stunden ihrer Fahrt nicht erinnern konnten. Unter Hypnose konnten sie die Erinnerung­slücken schließen: Sie seien in das Ufo transporti­ert und dort medizinisc­h untersucht worden, erzählten sie ihrem Psychiater, der stets an die Aufrichtig­keit seiner Patienten glaubte. Es folgten Zeitungsbe­richte, Bücher und eine Tv-verfilmung. Das Phänomen der Alien-entführung­en war geboren. Und damit auch die Debatte darüber, ob die Berichte stimmten oder nicht.

Kritiker wie der Psychologe Leonard Newman von der University of Illinois, Chicago, sprachen von „falschen Erinnerung­en, Fantasie und Tagträumen“. Andere Wissenscha­ftler hielten die Schilderun­gen für authentisc­h. Zumal seit den 1970er-jahren das Vertrauen in die amerikanis­che Regierung sichtbar gesunken war.

Der Vietnamkri­eg und der Watergate-skandal hatten ihre Spuren hinterlass­en. Wenn die Regierung in diesen Punkten so lügt, so die Annahme vieler Us-bürger, so tut sie es vielleicht ja auch in Bezug auf Aliens.

Mit John Mack beschäftig­te sich in den 1990er-jahren ein renommiert­er Harvard-professor mit dem Phänomen, das anscheinen­d immer weiter um sich griff. Mack organisier­te Konferenze­n, bei denen sich Wissenscha­ftler verschiede­ner Diszipline­n austauscht­en. In seinen Untersuchu­ngen kam er zu dem Schluss, dass viele Personen, die von Alien-entführung­en berichtete­n, unter posttrauma­tischen Belastungs­störungen litten. Sie zeigten ähnliche Symptome wie Soldaten, die im Krieg Traumatisc­hes erlebt haben: Sie wurden von Erinnerung­en und Flashbacks übermannt, konnten nicht mehr schlafen, waren gereizt und ängstlich. Ob dabei wirklich Außerirdis­che diese Symptome verursacht hatten, vermochte auch Mack nicht zu sagen. Er war jedoch zeit seines Lebens davon überzeugt, dass die Betroffene­n selbst daran glauben.

Und heute? Funkstille. In den USA sind Außerirdis­che vor allem dort sichtbar, wo sie Geld bringen. In der Kleinstadt Roswell in New Mexico, wo 1947 ein Ufo abgestürzt sein soll, wirbt fast jedes Geschäft mit kleinen grünen Männchen. Auf den Straßenlat­ernen kleben Augen, damit sie wie Alien-köpfe aussehen. Und die Mcdonald’s-filiale wurde so gestaltet, dass sie einem Raumschiff ähnelt. Ernsthaft diskutiert wird über das Thema aber kaum noch. Selbst „Akte X“, einst der Gottesdien­st für „Gläubige“, hatte sich irgendwann totgelaufe­n. Nach den Terroransc­hlägen von 9/11 sei „einfach nicht mehr die richtige Stimmung“da gewesen, erzählte der „Akte X“-produzent Chris Carter bei einem Treffen mit Fans im Jahr 2008.

Auch Spitzenpol­itiker

Das bedeutet jedoch nicht, dass alle, die an Alien-entführung­en glauben, ebenfalls vom Erdboden verschwund­en sind. „Es betrifft noch immer sehr viele Menschen“, sagt Laurie Mcdonald, die Psychother­apeutin, die sich auf das Thema spezialisi­ert hat und zu deren Patienten auch Karl Grossmann gehört. In ihrer Praxis hängen zahlreiche Urkunden, die sie als Hypnotiseu­rin ausweisen – eine Technik, durch die Betroffene ihre Erinnerung­en wiedererla­ngen sollen.

Mcdonald ist eine selbstbewu­sste Frau, die für ihre Arbeit brennt. „Die Leute haben es satt, dass sich die Mainstream-medien über sie lustig machen“, sagt sie. Deshalb redeten die meisten heute nur noch in Selbsthilf­egruppen oder sozialen Netzwerken über das Erlebte.

Die Psychother­apeutin berichtet von 1 300 Fällen, die sich auf ihrem Schreibtis­ch stapeln. „Natürlich gibt es Leute, die auf Drogen sind und sich das Ganze einbilden“, räumt sie ein. Die meisten Schilderun­gen halte sie aber für authentisc­h. „Diese Menschen haben etwas Traumatisc­hes erlebt. Unter Hypnose erzählen sie mir sehr detaillier­t, was ihnen widerfahre­n ist.“Zu ihren Patienten gehörten sowohl Männer wie Frauen, vom Hauswart bis zum Spitzenpol­itiker, und sie kämen aus ganz verschiede­nen Ländern.

Auch Wissenscha­ftler haben sich schon mit der Frage beschäftig­t, welche Personengr­uppen am ehesten betroffen sind. Die Ergebnisse fielen unterschie­dlich aus. Manche befanden, die Betroffene­n hätten eine überdurchs­chnittlich rege Fantasie. Andere schlussfol­gerten, es handle sich um Durchschni­ttsbürger mit intaktem Verstand. Wie viele Menschen tatsächlic­h von Außerirdis­chen entführt wurden – oder das glauben –, darüber gibt es keine Statistike­n. Laurie Mcdonald geht von einer hohen Dunkelziff­er aus. Sie ist allerdings nicht ganz objektiv. Auch sie sei als junge Frau von Aliens entführt worden, erzählt die Therapeuti­n: „Sie standen in meinem Schlafzimm­er, ich hatte keine Angst – bis sie mit einer riesigen Nadel in meinen Bauchnabel eindrangen.“Kritiker halten solche Schilderun­gen für Schauerges­chichten, mit denen Therapeuti­nnen wie Laurie Mcdonald vor allem eines machen: Geld.

Unter ihren Patienten genießt Mcdonald hingegen einen Heimvortei­l. Sie tritt auf Ufo-kongressen auf, leitet eine Selbsthilf­egruppe, hat demnächst ihre eigene Tvsendung. Sie ist eine von ihnen. Warum sollten Menschen die einzigen intelligen­ten Lebewesen im Universum sein?, lautet ihr Standpunkt. Und die Entführung­en? „Die werden von verschiede­nen Alienrasse­n durchgefüh­rt“, sagt die Psychother­apeutin „Sie haben alle ihre eigenen Motive. Und natürlich verletzen sie damit unsere Menschenre­chte.“

Karl Grossmann hat es geholfen, mit seiner Therapeuti­n über die verhängnis­volle Sommernach­t im Yosemite-nationalpa­rk zu sprechen. „Heute ist es mir egal, ob mich die Leute für verrückt halten“, sagt der 69-Jährige. Er sei ruhiger geworden, gelassener. „Die Angst ist jetzt viel geringer“, sagt er. „Ich weiß jetzt, dass da draußen mehr ist, als die meisten denken. Viel mehr.“

Die Leute haben es satt, dass sich die Mainstream­medien über sie lustig machen.

Laurie Mcdonald, Psychother­apeutin

Kritiker sprechen von falschen Erinnerung­en, Fantasie und Tagträumen.

 ?? Foto: Shuttersto­ck ?? Ein Wissenscha­ftler stellte schon in den 1990er-jahren fest: Viele Menschen, die über Alien-entführung­en berichten, leiden unter posttrauma­tischen Störungen.
Foto: Shuttersto­ck Ein Wissenscha­ftler stellte schon in den 1990er-jahren fest: Viele Menschen, die über Alien-entführung­en berichten, leiden unter posttrauma­tischen Störungen.
 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Luxembourg