Wir müssen reden
Die deutsche Regierung scheut den Konflikt zwischen Menschlichkeit und Nützlichkeit, den die Corona-krise ihr aufzwingt
„Ausdenken“, sagt Achim Truger, „ausdenken kann man sich viele schlimme Dinge.“Truger hat nicht nur einen Lehrstuhl für Sozioökonomie an der Universität Essenduisburg; er ist außerdem einer der fünf sogenannten Wirtschaftsweisen, also einer der wichtigsten wirtschaftspolitischen Berater der deutschen Bundesregierung. Gemeinsam mit seinen vier Kollegen legt er am Montagvormittag ein „Sondergutachten“vor über „Die gesamtwirtschaftliche Lage angesichts der Corona-pandemie“. Darin steht, dass die deutsche Wirtschaft im laufenden Jahr in jedem Fall in eine Rezession rutschen wird; zwischen 2,8 und 5,4 Prozent werde das Wirtschaftswachstum schwinden.
„Entscheidend für die wirtschaftliche Entwicklung dürfte sein“, schreiben die Ökonomen, „ob es gelingt, die Ausbreitung des Corona-virus effektiv zu bekämpfen, sodass die verschiedenen Einschränkungen sozialer und wirtschaftlicher Aktivitäten schnell aufgehoben werden können“. Basis: die Strategie der Bundesregierung.
Exakt die stellt ein anderer Spitzen-wirtschaftsforscher in Frage. Thomas Straubhaar von der Universität Hamburg wirbt dafür, die Wirtschaft ungeachtet der Infektionslage rasch wieder hochzufahren. Nicht die ganze Gesellschaft vom öffentlichen Leben fernzuhalten, sondern die Alten zu isolieren, was sich „makroökonomisch weniger auswirkt“. Noch deutlicher wird Alexander Dibelius, Deutschland-chef des Luxemburger Private-equity-unternehmens CVC: „Ist es richtig, dass zehn Prozent der – wirklich bedrohten – Bevölkerung geschont, 90 Prozent der gesamten Volkswirtschaft aber extrem behindert werden?“Eine rhetorische Frage – denn auch das sagte Dibelius: „Der Shutdown macht mir mehr Angst als das Virus.“
Ethischer Kernkonflikt
Umgekehrt fürchten wegen solcher Äußerungen – und dem Drängen auch diverser Politiker – nicht wenige in Deutschland, die Regierung könnte sehr bald von Menschlichkeit auf Nützlichkeit umstellen, von Solidarität auf Ertrag. Straubhaar rechnet fest damit. Er nimmt an, die Gesellschaft selbst werde die Gewichte zugunsten der Wirtschaft verschieben: weil sie die soziale Isolation – die aktuell 95 Prozent in Deutschland für richtig halten – nicht länger als sechs Wochen akzeptieren könne. Spätestens Anfang Mai, prophezeit Straubhaar, werde „die Diskussion kippen“.
Noch will beispielsweise Bundesfinanzminister Olaf Scholz (SPD) den Konflikt nicht einmal thematisieren. „Ich wende mich gegen jede dieser zynischen Erwägungen, dass man den Tod von Menschen in Kauf nehmen muss, damit die Wirtschaft läuft“, sagt er der „Bild am Sonntag“. „Solche Abwägungen halte ich für unerträglich.“Für Straubhaar ist das eine Steilvorlage. Er finde es „verblüffend“, dass die Bundesregierung „nach den politisch verheerenden Ergebnissen“mit diesem Begriff „wiederum von einer Alternativlosigkeit ausgeht“.
Weder Scholz noch Merkel hat das Wort ausgesprochen. Auch nicht der Bayern-mp Markus Söder (CSU) oder sein Nrwkollege Armin Laschet (CDU) oder sonst irgendwer. Aber sie alle sagen eben auch nichts dazu, wie sie das so offensichtliche Dilemma angehen und lösen wollen. Dabei hat der Deutsche Ethikrat das Aufeinanderprallen von
Mitmenschlichkeit und Wohlstandserhalt eben den „ethischen Kernkonflikt“der Pandemie genannt – und der Bundesregierung eine „transparente und regelmäßige Kommunikation“zu ihrer „Entscheidungsfindung“empfohlen.
Bislang ist davon, im wörtlichsten Sinn, keine Rede. Und so gehört der Wirtschaftsweise Truger zu den wenigen, die Position beziehen. Den Kollegen vom Münchner ifo-institut, die mit bis zu 20 Prozent Rezession kalkulieren, wirft er vor, „mit Horrorszenarien“der Politik „das Gefühl“zu geben, „sie müsse zwischen Gesundheit und Wirtschaft entscheiden“. Die Regierenden aber sollten „jetzt schon“eine Konjunkturstrategie festlegen „für genau den Moment, in dem die Ausgangsbeschränkungen enden“. Und den Zeitpunkt dafür „vor allem mit Medizinern besprechen“.