Bolsonaro leugnet den Ernst der Lage
Die Zahl der Corona-infizierten wächst, aber Brasiliens Präsident bleibt bei seiner Haltung
Cleonice Gonçalves erreichte erst nach ihrem Tod Berühmtheit. Die Hausangestellte, die 63 Jahre alt wurde, ist die mutmaßlich erste Corona-tote in Brasiliens Metropole Rio de Janeiro. Sie wurde aller Wahrscheinlichkeit nach von ihrer Arbeitgeberin angesteckt, die den Karneval in Italien feierte und von dort das Virus mitbrachte und es an ihre Angestellte weitergab. Der Tod von Gonçalves zeigt, wie schnell sich das Virus auch unter den Ärmeren und Armen verbreiten kann, und wenn man Brasiliens Favelas sieht, in denen oft Tausende Menschen dicht gedrängt auf engstem Raum leben, dann kann man ahnen, was Brasilien und was anderen Staaten Lateinamerikas droht, wenn Corona hier richtig zu wüten beginnt. Schließlich leben in der Region rund 200 Millionen Menschen in Armut.
Seit gut einer Woche hat das Virus nun auch Lateinamerika fest im Griff. Und die Zahlen der Neuinfektionen und Toten steigen in einigen Ländern dramatisch an, wenn sie auch noch überschaubar sind im Vergleich mit manch europäischem Staat und den USA. Aber die Gesundheitsbehörden zwischen Argentinien und Mexiko weisen immer wieder darauf hin, dass die Region zeitlich rund einen Monat hinter Europa hinterher ist. Erst am 26. Februar wurde in Brasilien der erste Fall in der Region bestätigt. Mittlerweile befindet sich der Subkontinent aber schon in Phase 2 der Ansteckungen. Das heißt, von jetzt an haben sich die Erkrankten nicht nur außerhalb der Landesgrenzen infiziert, sondern von nun an sind fast überall auch Ansteckungen innerhalb des Landes nicht mehr zu vermeiden. So wie bei der Haushälterin Cleonice Gonçalves in Rio.
Am härtesten ist tatsächlich Brasilien betroffen, wo der Präsident die Pandemie aber am längsten ignoriert hat und drastische Maßnahmen noch immer für völlig falsch hält.
Eine „kleine Grippe“Corona, so behauptet der rechtsradikale Jair Bolsonaro, sei doch nichts weiter als eine „kleine Grippe“. Allerdings sind daran bis zum Sonntag in Lateinamerikas größtem Land 136 Menschen gestorben, 4256 hatten sich infiziert. Dessen ungeachtet wütet Bolsonaro gegen die Gouverneure, die über ihre Bundesstaaten drastische Maßnahmen wie Ausgangssperren verhängen, und behauptet, sie wollten Brasilien „ruinieren“. In einem auf Facebook verbreiteten Video riefen er und sein Sohn Flavio die Bevölkerung auf, ihrem Alltag trotz der Pandemie weiterhin nachzugehen.
Doch Bolsonaro trifft zunehmend auf Widerstand: Ein Gericht in Rio untersagte am Samstag Regierungsvertretern, Informationen zum Coronavirus ohne wissenschaftliche Grundlage zu verbreiten oder „agitatorisch“einzusetzen. Demnach muss die Regierung offiziell erklären, dass die Kampagne „Brasilien darf nicht stillstehen“wissenschaftlichen Kriterien
nicht standhält. Längst steigen der Ärger der Bevölkerung und die Besorgnis der Eliten über ihren starrköpfigen Präsidenten. Dieser Tage wurden die Führer der Streitkräfte bei Vizepräsident Hamilton Mourão vorstellig, um ihr Missfallen zu hinterlegen. Die brasilianische Presse ist sich nicht einig, ob die Militärs den Ex-general Mourão nur baten, seinen Präsidenten einzubremsen oder schon über Szenarien der Ablösung Bolsonaros berieten.
Das galt bis zum Wochenende auch noch für Mexikos Staatschef Andrés Manuel López Obrador. Fahrlässig lange hatte er die Gefahr von Corona klein geredet. Sein Land wappne sich zwar gegen die Pandemie. „Aber wenn wir übereilte Entscheidungen treffen, schadet das nur der Wirtschaft und wir versetzen die Bevölkerung in Panik“. So sind die Grenzen nach wie vor offen, Ausgangssperren kein Thema. Immerhin sind die Schulen geschlossen, und in Mexiko City sind jetzt Kinos, Kneipen und Kirchen geschlossen. Am Samstag verschärften die Gesundheitsbehörden angesichts von 993 Infizierten und 20 Toten und einer exponentiellen Zunahme die Mahnung: „Bleibt zuhause, es ist die letzte Chance, die Pandemie zu verlangsamen“, warnte Vize-gesundheitsminister López-gatell.
Kritische Lage in Ecuador
Aber auch Chile mit 2 139 Infizierten und sieben Toten, Argentinien mit 820 Infizierten und 20 Toten sowie Ecuador mit 1 924 Infizierten und 58 Toten sind hart getroffen. Die Lage in Ecuador, drittkleinstes Land Südamerikas, ist besonders kritisch. Es hat pro Kopf mit Abstand die meisten Infizierten und Toten zu beklagen. Zum Teil liegt das an der engen Verbindung zu Spanien, wo Millionen ecuadorianische Migranten leben. Kolumbien verzeichnet mit seinen 702 Erkrankten und zehn Toten einen vergleichsweise weichen Verlauf. Aber überall außer Mexiko und Nicaragua gelten mittlerweile mehr oder minder rigide Quarantänevorschriften.
Mediziner fürchten, dass ein massiver Ausbruch von Covid-19 in Lateinamerika noch tödlichere Folgen haben könnte als in Europa, weil die Gesundheitssektoren aufgrund mangelnder Finanzierung erheblich unterausgestattet sind. „Unsere Region könnte sich in das größte Opfer von Covid-19 verwandeln“, warnt Miguel Lago, Direktor des Instituts für Studien zur Gesundheitspolitik in Rio de Janeiro (IEPS). Zum einen kämpfen viele Länder bereits mit Infektionskrankheiten wie dem Dengue-fieber und Masern. Darüberhinaus bestehen große Unterschiede zwischen den öffentlichen und privaten Gesundheitssystemen. Vor allem die Patienten im öffentlichen Gesundheitssystem sind in fast allen Staaten mehr schlecht als recht aufgehoben.
Das liegt auch an den geringen Investitionen in Gesundheit. 2017 gaben die Staaten Lateinamerikas nach Berechnungen der Weltgesundheitsorganisation pro Kopf 1 076 Dollar aus. In Europa lag diese Zahl mehr als drei Mal so hoch. Daher müsse man damit rechnen, dass die öffentlichen Gesundheitssysteme zwischen Mexiko und Argentinien in den kommenden Wochen größere Probleme bekommen als diejenigen in Spanien und Italien, warnt der ehemalige Gesundheitsminister Kolumbiens, Alejandro Gaviria.
Unsere Region könnte sich in das größte Opfer von Covid-19 verwandeln.
Miguel Lago, Gesundheitsexperte