Luxemburger Wort

Die letzte Ehre fällt aus

Wie das Virus den Alltag verändert: Chinesen können sich nicht mehr von ihren Verstorben­en verabschie­den

- Von Fabian Kretschmer (Peking)

Als Wu Mins bettlägeri­ger Großvater in den Nachmittag­sstunden des 24. Februar stirbt, schießt der 28-jährigen Chinesin nach der Todesnachr­icht reflexarti­g ein Gedanke durch den Kopf: möglichst bald ein Ticket in ihr Heimatdorf zu buchen. Von der Hauptstadt Peking, in der sie lebt und arbeitet, in die südchinesi­sche Provinz Guangxi sind es immerhin knapp 1 900 Kilometer Luftdistan­z. Oder drei Flugstunde­n, gefolgt von einer ebenso langen Busfahrt. Trotz der langen Anreise ist es unter normalen Umständen ein absoluter Pflichtter­min, dem Großvater die letzte Ehre zu erweisen: „Beerdigung­en sind traditione­ll das wichtigste Ereignis eines jeden Chinesen, wichtiger noch als die Geburt“, sagt Wu Min.

Doch normal ist in diesen Zeiten gar nichts mehr. Noch am selben Abend kommen der Büroangest­ellten die ersten Zweifel: Nach ihrer Rückkehr nach Peking müsste sie per Gesetz für 14 Tage in häusliche Quarantäne. „Mein Chef hat nichts dagegen gesagt, aber ich lebe noch mit zwei Mitbewohne­rn zusammen. Die müssten dann ebenfalls für zwei Wochen zu Hause bleiben“, sagt Wu Min. Und überhaupt: Was, wenn sie sich im Flugzeug oder Bus mit dem Virus ansteckt und den Erreger in ihrem Heimatdorf verbreitet? Nach einer schlaflose­n Nacht entscheide­t sich die Endzwanzig­erin, zu Hause zu bleiben. Ihr Vater, sagt sie, habe Verständni­s gezeigt – im Gegensatz zu einigen Verwandten.

Gestern hat Pekings Nationale Gesundheit­skommissio­n lediglich 31 Neuinfekti­onen für das gesamte Land vermeldet, darunter 30 „importiert­e

Fälle“– also eingefloge­ne Personen aus dem Ausland. Auch wenn es Zweifel an den offizielle­n Statistike­n gibt, scheint das Virus in China derzeit weitgehend unter Kontrolle. Und dennoch beeinträch­tigt es den Alltag der Chinesen weiterhin massiv.

Die Nachrichte­nagentur Reuters berichtet gestern von besitzerlo­sen Urnen in einem Krematoriu­m in Jingzhou, einer Stadt in der schwer von Covid-19 betroffene­n Provinz Hubei. Es heißt, einige Familienan­gehörige könnten die Asche ihrer verstorben­en Angehörige­n derzeit nicht abholen, weil sie vielfach noch selbst in Quarantäne stecken würden.

Vor einer Woche haben die sieben Bestattung­sinstitute der 11Millione­n-metropole Wuhan, des wahrschein­lichen Ursprungso­rtes der Pandemie, ihre Pforten geöffnet. Auf dem sozialen Netzwerk Weibo haben einige Nutzer Fotos von langen Warteschla­ngen gepostet, um die Urnen ihrer Angehörige­n abzuholen. Wenig später wurden die Beiträge bereits von den Zensoren gelöscht. Einige Nutzer schreiben, dass Sicherheit­skräfte in Zivil sie davon abgehalten hätten, Fotoaufnah­men zu posten. Andere berichten von Warnungen, öffentlich­e Gefühlsaus­brüche

zu unterlasse­n. Noch immer sind die Behörden überaus nervös, Informatio­nen, die nicht ins offizielle Narrativ passen, könnten an die Öffentlich­keit gelangen. Etwa das vom chinesisch­en Magazin „Caixin“veröffentl­ichte Fotomateri­al von Mittwoch und Donnerstag, das Lieferunge­n von 2 500 und 3 500 Urnen zu einem von acht Bestattung­sinstitute­n der Stadt zeigt. Auf sozialen Medien spekuliere­n viele Chinesen, ob die offizielle­n Totenzahle­n nicht deutlich höher liegen müssten als die offiziell 2 535 an Covid-19 Verstorben­en in Wuhan.

Respekt zeigen

Im Gegensatz zu vielen Virustoten konnte der Großvater der 28jährigen Wu Min aus Guangxi würdevoll bestattet werden: Drei Tage wurde der Leichnam im Wohnzimmer ihrer Eltern aufbewahrt, aus jeder Familie des Dorfes kam mindestens ein Mitglied, um Respekt zu zeigen. Beim Leichensch­maus habe man aufgrund der derzeitige­n Beschränku­ngen nur zehn Tische bewirten können, ein Bruchteil der sonst riesigen Trauerfeie­rn. Zwanzig Gehminuten entfernt liege ihr Großvater nun auf einem Familiengr­ab an einem Berghang begraben. Ende Januar, so erinnert sich Wu Min, habe sich sein Gesundheit­szustand massiv verschlech­tert, als der 74Jährige aus seinem Bett gestürzt ist. Damals hieß es aus dem umliegende­n Krankenhau­s, man könne derzeit keine Ambulanz schicken und keine neuen Patienten aufnehmen. Die Ärzte stünden derzeit unter extremer Arbeitsbel­astung, einige seien zudem nach Wuhan und in die Provinz Hubei entsandt worden.

 ?? Foto: AFP ?? Vater und Sohn in einem Park in Wuhan. Gestern hat Peking lediglich 31 Neuinfekti­onen für das gesamte Land vermeldet, darunter 30 „importiert­e Fälle“– also eingefloge­ne Personen aus dem Ausland.
Foto: AFP Vater und Sohn in einem Park in Wuhan. Gestern hat Peking lediglich 31 Neuinfekti­onen für das gesamte Land vermeldet, darunter 30 „importiert­e Fälle“– also eingefloge­ne Personen aus dem Ausland.

Newspapers in German

Newspapers from Luxembourg