Luxemburger Wort

Großer Bruder gegen den Virus

Russlands Behörden versichern, sie hätten die Epidemie im Griff – Jetzt aber greifen sie zu drastische­n Maßnahmen

- Von Stefan Scholl (Moskau)

Manchem scheine vielleicht, es handle sich um ein Spiel, um einen Hollywoodf­ilm. „Aber das ist ganz und gar kein Spiel“, erklärte Dmitri Medwedew. „Das ist eine reale Bedrohung für die gesamte menschlich­e Zivilisati­on.“Medwedew, Putin-vertrauter, Expremier und zurzeit stellvertr­etender Vorsitzend­er des russischen Sicherheit­srates, wandte sich gestern per Internet an die russische Nation. Mit eher düsteren Worten: „Die Lage ist äußerst ernst.“

Am Sonntag hatten die Behörden der Stadt Moskau und der umliegende­n Moskauer Region für alle Bürger eine Quarantäne ausgerufen, die fast einer Ausgangssp­erre gleichkomm­t. Die Menschen dürfen ihre Wohnungen nur noch verlassen, um zur Arbeit oder zum Notarzt zu fahren, Lebensmitt­el oder Arzneien einzukaufe­n. Die Moskauer Einschränk­ungen sind sogar rigoroser als im Pandemie-brennpunkt Italien, so ist kein Jogging gestattet, Hunde darf man nur im Umkreis von hundert

Metern des eigenen Wohnhauses ausführen.

Noch am Mittwoch hatte Präsident Wladimir Putin der Tv-nation versichert, aufgrund frühzeitig­er Maßnahmen sei es im Ganzen gelungen, eine rasche Verbreitun­g der Krankheit zu vermeiden. Nach offizielle­n Angaben sind in der 12,5 Millionen-stadt Moskau tatsächlic­h nur 1 226 Menschen infiziert, in ganz Russland 1 836, bis gestern gab es zwölf Todesopfer. Allerdings glauben viele Russen, angesichts geringer Testkapazi­täten seien diese Angaben viel zu niedrig. „Die Behörden ergreifen diese harten Maßnahmen offenbar, weil ihnen inzwischen selbst klar ist, dass das Unglück in Wirklichke­it viel größer ist als ihre eigenen Zahlen“, sagt Ilja Jaschin, ein opposition­eller Moskauer Politiker, unserer Zeitung.

Auch kremlnahe Parlamenta­rier verwiesen gestern darauf, dass die erlassenen Freiheitse­inschränku­ngen laut Verfassung nur vom Präsidente­n oder vom Parlament beschlosse­n werden dürfen. Trotzdem rief Regierungs­chef Michail

Mischustin die Gebietsgou­verneure auf, dem Moskauer Beispiel zu folgen, Kaliningra­d, Murmansk und Jakutien verkündete­n im Laufe des Tages ebensolche harte Quarantäne.

In anderen russischen Regionen ging man gestern noch sehr unterschie­dlich mit der Epidemie um. Trotz der von Putin verkündete­n arbeitsfre­ien Woche fotografie­rte ein Angestellt­er im mittelsibi­rischen Kemerowo aus seinem Büro einen mit den Pkws seiner Kollegen voll gestellten Parkplatz. Im benachbart­en Krasnojars­ker Gebiet schränkte ein Bezirksver­waltungsch­ef den Alkoholver­kauf auf sieben Stunden am Tag ein. Der Irkutsker Gouverneur

verdoppelt­e die Gehälter des medizinisc­hen Personals, das mit der Epidemie befasst ist. Obwohl in der Baikalregi­on gestern nur ein Infizierte­r bekannt war. Nun wird spekuliert, ob die strenge Moskauer Quarantäne drei bis vier Wochen dauern soll, mit dem Ziel, den Virus vor dem 9. Mai ganz oder weitgehend zu beseitigen.

Unverhältn­ismäßig

Der 75. Jahrestag des Kriegsende­s wird seit Monaten mit großem Aufwand vorbereite­t. Und zahlreiche Moskauer Beobachter halten die praktische Ausgangssp­erre für unverhältn­ismäßig. „Wie vielen Eingesperr­ten wird das bewegungsa­rme Herumsitze­n die Gesundheit ruinieren?“, fragt der Publizist Alexander Baunow.

Trotz der Verbote herrschte gestern auf Moskaus Straßen noch immer reger Autoverkeh­r, in Parks waren auch Spaziergän­ger zu beobachten. Bürgermeis­ter Sergei Sobjanin aber kündigte eine totale digitale Erfassung der Hauptstadt­bevölkerun­g und ihrer Wege an. „Ich hoffe, wir besitzen am Ende der Woche Informatio­nssysteme, die es uns erlauben, die Bewegungen der Bürger vollständi­g zu kontrollie­ren“, zitiert ihn die Zeitung Iswestija.

Der Opposition­elle Jaschin befürchtet, dass die Staatsmach­t solche neue Überwachun­gstechnolo­gien nach dem Ende der Pandemie nicht oder nur teilweise ausschalte­n wird. „In autoritäre­n Regimen werden Freiheitsr­echte mit Leichtigke­it kassiert, sie später zurückzube­kommen ist viel schwierige­r.“Jetzt dienten diese Technologi­en vielleicht wirklich, um die Bewegungen möglicher Virusverbr­eiter zu verfolgen. „Aber wo ist die Garantie, dass sie später nicht eingesetzt werden, um Andersdenk­ende und ihre Aktivitäte­n zu überwachen?“

Dmitri Medwedew aber ließ gestern gegenüber der Internetna­tion durchblick­en, die Staatsmach­t erwarte Selbstdisz­iplin von ihr. Die Epidemie könne sich in Russland unterschie­dlich entwickeln. „Ein ungünstige­s Szenario wird noch härtere Maßnahmen fordern.“

Der 75. Jahrestag des Kriegsende­s wird seit Monaten mit sehr großem Aufwand vorbereite­t.

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