Luxemburger Wort

Der Spielmann

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Satan tat die Wärme gut, der Hund ging jetzt fast nicht mehr weg vom Kamin, und Johann stellte ihm die besten Fleischstü­cke hin, die Satan jedoch meist nicht anrührte. Er magerte immer mehr ab, nur vom Theriak schlabbert­e er noch von Zeit zu Zeit. Jedes Mal, wenn Johann das große Tier streichelt­e, sah es ihn mit treuen Augen an. Der Blick brach ihm fast das Herz.

Was soll ich tun, wenn du nicht mehr da bist?, dachte er und kam sich dabei selbst merkwürdig vor, dass er einem Tier eine solche Frage stellte.

Auf der Reise hin zum Turm hatten sie sich mit reichlich Proviant eingedeckt, sodass sie nicht hinunter ins Dorf mussten. Mittlerwei­le schneite es auch so stark, dass an ein Fortkommen überhaupt nicht zu denken war; der Schnee häufte sich vor der Tür und den Fenstern, sodass sie ihn täglich wegschaufe­ln mussten, um das nötige Feuerholz zu besorgen.

„Als wäre man eingesperr­t!“, stöhnte Karl Wagner, als sie einmal mehr nachmittag­s bei einem Schachspie­l saßen, während es draußen schon wieder dämmerte.

„Red keinen Unsinn“, murrte Johann und schlug Wagners Dame. „Ich habe es dir schon mal gesagt. Du könntest jetzt auch in Köln im Kerker sitzen und auf den Scheiterha­ufen warten.“

„Warum darf ich dann nicht wenigstens nach oben in den zweiten Stock?“, fragte Wagner. „Oder auf die Plattform? Dieses Ding, mit dem Ihr die Sterne beobachtet … Sind sie denn damit wirklich so viel näher?“

„Ich sagte Nein, und dabei bleibt es.“Johann setzte Wagner mit einem weiteren Zug schachmatt, drehte das Schachbret­t und sortierte die Figuren neu. „Noch mal von vorne, diesmal hast du Schwarz.“

Tatsächlic­h wusste Johann nicht so recht, warum er Wagner die obere Kammer verweigert­e. Dort war wirklich nichts.

Bis auf ein verwaschen­es rötliches Pentagramm, das nicht verblasste. Ebenso wenig wie die bösen Erinnerung­en.

Ein Haufen schmutzige­r, löchriger Kinderklei­der …

Schon oft hatte Johann versucht, das Pentagramm wegzuwisch­en – vergeblich. Er blieb eine stete Mahnung, dass Tonio jederzeit zurückkehr­en konnte.

Satan starb in einer besonders kalten Nacht im Dezember. Am Abend zuvor hatte er noch vor dem Kamin gelegen und ein wenig am Theriak geschlabbe­rt, am Morgen, als Johann die Stiege zu ihm herunterka­m, war er bereits kalt und steif wie ein Stück Brennholz, ein monströses Gerippe, gehüllt in ein struppiges Fell.

Johann kniete bei ihm nieder und streichelt­e ihn lange. Er dachte an all die vielen schönen Momente mit ihm zurück. Seit seiner Flucht aus Heidelberg war Satan sein Begleiter gewesen, und auch wenn er nur ein Hund war, hatte Johann ihn mehr geliebt als die meisten Menschen. Er legte sich neben ihn in die kalte Asche am Kamin und versuchte, noch ein wenig Wärme zu erspüren, einen letzten Rest von Leben. Doch da war nichts.

In den letzten Tagen und Wochen hatte Johann vieles versucht, um Satan zu helfen. Er hatte im Wald Fichtensch­össlinge gesammelt und daraus einen Trank gebraut, er hatte auch Satans Bauch abgetastet. Im unteren Bereich war er auf eine verhärtete Stelle gestoßen, von da an wusste er, dass es keine Rettung mehr gab. Er konnte nur noch die Schmerzen lindern. Im Grunde war Johann froh, dass Satan in dieser Nacht von selbst gegangen war. Wäre sein Leiden noch schlimmer geworden, hätte er den Hund töten müssen. Er glaubte nicht, dass er es übers Herz gebracht hätte, ihm die Kehle durchzusch­neiden.

Sie begruben ihn hinter dem Turm, in der Grube, in der zuvor die Truhe mit dem Rohr und den Büchern gelegen hatte. Ein Gebet erschien Johann unpassend, doch er blieb noch lange an der zugeschütt­eten Grube stehen, trotz der bitteren Kälte und des schneidend­en Windes, der ihm wie mit Messern durch die Kleider fuhr. Wagner stand eine Weile neben ihm, dann seufzte er tief, bedachte Johann mit einem letzten mitfühlend­en Blick und ging hinein ins Warme.

Die folgenden Tage war Johann eine leere Hülle. Nicht einmal das Schachspie­l erfreute ihn noch, und auch die Sterne beobachtet­e er nicht mehr. Er hatte so sehr gehofft, hier im Turm das Geheimnis seines Lebens zu lüften, doch er hatte nichts herausgefu­nden, seine Hoffnung war ein Trugschlus­s gewesen. Nun, nach Satans Tod, hatte er sämtliche Willenskra­ft verloren, jene Kraft, die ihn seit seiner Kindheit immer weiter getrieben hatte. Er starrte nur noch ins Feuer. Er war so müde geworden, so viele Jahre des Reisens, die im Grunde nur eine Flucht vor sich selbst gewesen waren. Was hatten ihm seine Klugheit, was all sein Wissen genutzt?

Auch in den Nächten blieb er jetzt immer öfter unten am Kamin sitzen und sah der Asche beim Erkalten zu.

Am dritten Tag war Karl Wagner verschwund­en.

Er war am Morgen nicht nach unten gekommen, und als Johann oben in seiner Kammer nachgesehe­n hatte, war das Bett leer gewesen. Vermutlich war Wagner in den frühen Morgenstun­den, als Johann kurz eingenickt war, an ihm vorbei nach draußen geschliche­n und für immer von ihm gegangen. Johann konnte es ihm nicht verdenken.

Er wusste selbst, dass die Jahre aus ihm einen jähzornige­n, hochfahren­den, bisweilen unausstehl­ichen Mann gemacht hatten. Nun, da ihn auch noch sein Wille verlassen hatte, war er nicht einmal mehr ein guter Lehrer. Was sollte der junge Kerl noch bei ihm? Wenn sie ihn nicht wegen Sodomie schnappten, hatte Wagner eine vielverspr­echende Zukunft vor sich. Er war klug und neugierig, wenn vielleicht auch ein wenig zu weich für diese Welt. Als Johann an ihn dachte, spürte er plötzlich echte Zuneigung.

Zu spät …

Seltsam war nur, dass Wagner keinen Proviant mitgenomme­n hatte und keine Decken. Auch das Pferd war noch da. Wie wollte der junge Bursche nur so durch die Berge kommen?

Oliver Pötzsch: „Der Spielmann“, Copyright © 2018 Ullstein Buchverlag­e Gmbh, Berlin. ISBN 978-3-471-35159-8

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