Nomade und Sprachenwandler
Der Prix Batty Weber geht 2020 an den Weltbürger, Dichter, Literaturwissenschaftler und Übersetzer Pierre Joris
In Zeiten der zunehmenden Nationalismen hält Joris der Engstirnigkeit das Bekenntnis zum Respekt und zum Dialog entgegen. Auszug aus der Jury-begründung
Er ist eine der größten Stimmen, die Luxemburg je gekannt hat, aber er ist in seinem eigenen Land ein völlig Fremder.
Jean Portante (2006)
„Entschuldigen Sie bitte, ich muss mir erst einen Pulli suchen, wir sind gerade bei unserer täglichen Gymnastikstunde“, spricht Pierre Joris in seinen New Yorker Telefonanschluss. Als die Preisbekanntgabe in Luxemburg erfolgt, ist eben noch früher Morgen in seiner Wahlheimat und er mit seiner Frau, der Künstlerin Nicole Peyrafitte, beim Training in häuslicher Quarantäne.
Die Auszeichnung aus der alten Heimat, die er eigentlich neben Abstechern nach London und Paris wieder im Mai habe besuchen wollen, macht den Start in den Tag in diesem „Epizentrum“des Corona-virus, wie er sagt, gleich viel besser: „Das freut mich unheimlich und ist wunderbar. Und das, obwohl ich – auch wenn ich mindestens einmal im Jahr Familie und Freunde besuche – seit über einem halben Jahrhundert nicht mehr in Luxemburg lebe. Und es ist wunderbar, dass ich in diesem Jahr gerade diesen so zentralen und wichtigen Preis erhalte: Paul Celans 100. Geburtstag wird gefeiert. Und meine letzte Übersetzung, die meine Arbeiten um Celan abschließen soll, soll im Oktober herauskommen.“
Joris unterschlägt dabei, dass es auch für ihn ein Jubiläum im nächsten Jahr zu feiern gibt. 75 Jahre wird er alt – und zudem, dass er selbst mehrfach für seine Übersetzungsleistungen gerade um Celan
In der Metro: Pierre Joris hat zwar seinen Lebensmittelpunkt in New York, gilt aber als Weltbürger und fühlt sich als „Nomade“.
vom renommierten P.E.N.-CLUB ausgezeichnet wurde (zuletzt 2005 für „Lightduress“). Bescheiden sagt er über den Lyriker, der ihn sein ganzes Leben begleitete: „Als Dichter steht man eben hinter dem großen Mann zurück, den man übersetzt.“
Mittler zwischen den Literaturwelten und Kunstgenres
Und seine eigenen Werke, die er unter den über 50 Büchern als Autor, Herausgeber und Übersetzer veröffentlicht hat? In Luxemburg hat Joris immer wieder bei Editions Phi Werke publiziert, zuletzt im Rahmen einer großen Schau auf das künstlerische Werk seiner Frau bei André Simoncini. „Aktuell arbeite ich an einem Reader, in dem ich drei Seiten meiner Arbeiten zusammensetzen möchte: Dichtung, Übersetzung und mein essayistisches Schaffen. Eigentlich hatte ich das Projekt hinter die Celan-übersetzung zurückgestellt, aber jetzt habe ich durch die Einschränkungen der Viruspandemie Zeit. Auch wenn die Psyche in dieser Situation dafür nicht immer die beste ist.“
In einem Lw-porträt aus dem Jahr 2014 beschrieb sich Joris selbst als „Wissenschaftler des Ganzen“: „Das größte Problem unserer Zeit ist eine ,Überspezialisierung‘, die zur aktuellen, splitterhaften Sicht der Welt geführt hat“. Allein der Dichter, als „Wissenschaftler des Ganzen“, vermöge es, die unterschiedlichsten Informationen in seinem Werk zu einer Gesamtheit zusammenzuführen und so ein kompletteres Bild zu geben. Als Weltbürger gilt er und „Nomade“, der überall und nirgends ganz zu Hause war und ist.
Aber vielleicht musste die Zeit erst reif für ihn werden. Wurde dieser Wandler zwischen den Sprachen gar verkannt? „Er ist eine der größten Stimmen, die Luxemburg je gekannt hat, aber er ist in seinem eigenen Land ein völlig Fremder“, sagte Jean Portante 2006. „Ich glaube, es gab Kandidaten, die an mir hätten vorbeigehen können, wie zum Beispiel Pierre Joris, der viel in den Vereinigten Staaten publiziert und dessen Arbeit in Luxemburg schon längst hätte anerkannt werden müssen“, sagte Lambert Schlechter im Lw-interview zu seinem Prix Batty Weber 2014.
Eben im Netzwerk unter den Künstlern und Intellektuellen wie Jean Portante, Nico Helminger, Camille Kerger und anderen Pionieren aus der Kunstszene der 1980er-jahre, die bis heute zentrale Impulse in der zeitgenössischen Kunst setzen, ist er selbstverständlicher Teil – selbst jenseits des Atlantiks. Und er engagierte sich bei Veranstaltungen rund um die Poesie wie dem „Printemps des poètes“. Seine Texte wurden in Luxemburger Anthologien aufgenommen und in Ausstellungen (unter anderem in der Cnl-schau „Prendre le large“) thematisiert. „Ich bin nicht ausgezogen, um das Fürchten zu lernen, sondern um Neues zu lernen. Ich glaube, ich konnte dann durch mein Nomadentum viel nach Luxemburg mitbringen. Texte von Dichtern aus aller Welt“, sagt Joris. „Und aus Luxemburg habe ich diese Sprachenvielfalt mitgenommen. Das hat mich letztlich dazu geführt, dass eigentlich keine Sprache der Welt ganz adäquat ist – sondern man immer zwischen den Sprachen schreibt. Alle Sprache ist schon Übersetzung. Das ist eine meiner zentralsten Einsichten.“
Nicht zu übersehen ist aber auch sein Interesse über die Literatur hinaus. Egal ob für Jazz, die Performances – zwischen Dichtung, Actionpainting und Musik, die er zusammen mit seiner Frau Nicole Peyrafitte (zum Beispiel 2017 in der hauptstädtischen Galerie Simoncini)
erarbeitet, oder das Theater. Als „Author in Residence“wurden im Théâtre national du Luxembourg „The Gulf (Between You and Me)“und „The Agony of I. B. (Ingeborg Bachmann)“(Uraufführung) gezeigt. Direktor Frank Hoffmann öffnete ihm den Weg dazu: „Nicht nur sein Wissen um Texte und Sprache ist einzigartig. Joris hat als Performer eine unglaubliche Wirkung, die die dichten Texte auf besondere Art im Vortrag zum Scheinen bringen, und Verständnis ermöglichen.dabei ist er aber privat völlig unprätentiös“, so Hoffmann.
Noch gibt es in der aktuell unklaren Situation keinen Termin für die Preisüberreichung. Claude D. Conter, Leiter des „Centre national de littérature“und Batty-weber-preisjurypräsident, hofft auf eine Möglichkeit im Herbst. Für ihn ist aber die Wahl allein schon ein wichtiges Signal: „Zu diesem Zeitpunkt ist eine Poetik, die auf Austausch zwischen den Literaturen und Kulturen aufbaut und die den Gedanken eines literarischen Weltbürgertums vermitteln kann, eine richtige Antwort. Es gab immer schon einen Zeitpunkt, Joris zu lesen; aber ich glaube, dass es jetzt gerade entscheidend sein kann, ihn in Luxemburg neu- oder wieder zu entdecken.“