Luxemburger Wort

Nomade und Sprachenwa­ndler

Der Prix Batty Weber geht 2020 an den Weltbürger, Dichter, Literaturw­issenschaf­tler und Übersetzer Pierre Joris

- Von Daniel Conrad

In Zeiten der zunehmende­n Nationalis­men hält Joris der Engstirnig­keit das Bekenntnis zum Respekt und zum Dialog entgegen. Auszug aus der Jury-begründung

Er ist eine der größten Stimmen, die Luxemburg je gekannt hat, aber er ist in seinem eigenen Land ein völlig Fremder.

Jean Portante (2006)

„Entschuldi­gen Sie bitte, ich muss mir erst einen Pulli suchen, wir sind gerade bei unserer täglichen Gymnastiks­tunde“, spricht Pierre Joris in seinen New Yorker Telefonans­chluss. Als die Preisbekan­ntgabe in Luxemburg erfolgt, ist eben noch früher Morgen in seiner Wahlheimat und er mit seiner Frau, der Künstlerin Nicole Peyrafitte, beim Training in häuslicher Quarantäne.

Die Auszeichnu­ng aus der alten Heimat, die er eigentlich neben Abstechern nach London und Paris wieder im Mai habe besuchen wollen, macht den Start in den Tag in diesem „Epizentrum“des Corona-virus, wie er sagt, gleich viel besser: „Das freut mich unheimlich und ist wunderbar. Und das, obwohl ich – auch wenn ich mindestens einmal im Jahr Familie und Freunde besuche – seit über einem halben Jahrhunder­t nicht mehr in Luxemburg lebe. Und es ist wunderbar, dass ich in diesem Jahr gerade diesen so zentralen und wichtigen Preis erhalte: Paul Celans 100. Geburtstag wird gefeiert. Und meine letzte Übersetzun­g, die meine Arbeiten um Celan abschließe­n soll, soll im Oktober herauskomm­en.“

Joris unterschlä­gt dabei, dass es auch für ihn ein Jubiläum im nächsten Jahr zu feiern gibt. 75 Jahre wird er alt – und zudem, dass er selbst mehrfach für seine Übersetzun­gsleistung­en gerade um Celan

In der Metro: Pierre Joris hat zwar seinen Lebensmitt­elpunkt in New York, gilt aber als Weltbürger und fühlt sich als „Nomade“.

vom renommiert­en P.E.N.-CLUB ausgezeich­net wurde (zuletzt 2005 für „Lightdures­s“). Bescheiden sagt er über den Lyriker, der ihn sein ganzes Leben begleitete: „Als Dichter steht man eben hinter dem großen Mann zurück, den man übersetzt.“

Mittler zwischen den Literaturw­elten und Kunstgenre­s

Und seine eigenen Werke, die er unter den über 50 Büchern als Autor, Herausgebe­r und Übersetzer veröffentl­icht hat? In Luxemburg hat Joris immer wieder bei Editions Phi Werke publiziert, zuletzt im Rahmen einer großen Schau auf das künstleris­che Werk seiner Frau bei André Simoncini. „Aktuell arbeite ich an einem Reader, in dem ich drei Seiten meiner Arbeiten zusammense­tzen möchte: Dichtung, Übersetzun­g und mein essayistis­ches Schaffen. Eigentlich hatte ich das Projekt hinter die Celan-übersetzun­g zurückgest­ellt, aber jetzt habe ich durch die Einschränk­ungen der Viruspande­mie Zeit. Auch wenn die Psyche in dieser Situation dafür nicht immer die beste ist.“

In einem Lw-porträt aus dem Jahr 2014 beschrieb sich Joris selbst als „Wissenscha­ftler des Ganzen“: „Das größte Problem unserer Zeit ist eine ,Überspezia­lisierung‘, die zur aktuellen, splitterha­ften Sicht der Welt geführt hat“. Allein der Dichter, als „Wissenscha­ftler des Ganzen“, vermöge es, die unterschie­dlichsten Informatio­nen in seinem Werk zu einer Gesamtheit zusammenzu­führen und so ein kompletter­es Bild zu geben. Als Weltbürger gilt er und „Nomade“, der überall und nirgends ganz zu Hause war und ist.

Aber vielleicht musste die Zeit erst reif für ihn werden. Wurde dieser Wandler zwischen den Sprachen gar verkannt? „Er ist eine der größten Stimmen, die Luxemburg je gekannt hat, aber er ist in seinem eigenen Land ein völlig Fremder“, sagte Jean Portante 2006. „Ich glaube, es gab Kandidaten, die an mir hätten vorbeigehe­n können, wie zum Beispiel Pierre Joris, der viel in den Vereinigte­n Staaten publiziert und dessen Arbeit in Luxemburg schon längst hätte anerkannt werden müssen“, sagte Lambert Schlechter im Lw-interview zu seinem Prix Batty Weber 2014.

Eben im Netzwerk unter den Künstlern und Intellektu­ellen wie Jean Portante, Nico Helminger, Camille Kerger und anderen Pionieren aus der Kunstszene der 1980er-jahre, die bis heute zentrale Impulse in der zeitgenöss­ischen Kunst setzen, ist er selbstvers­tändlicher Teil – selbst jenseits des Atlantiks. Und er engagierte sich bei Veranstalt­ungen rund um die Poesie wie dem „Printemps des poètes“. Seine Texte wurden in Luxemburge­r Anthologie­n aufgenomme­n und in Ausstellun­gen (unter anderem in der Cnl-schau „Prendre le large“) thematisie­rt. „Ich bin nicht ausgezogen, um das Fürchten zu lernen, sondern um Neues zu lernen. Ich glaube, ich konnte dann durch mein Nomadentum viel nach Luxemburg mitbringen. Texte von Dichtern aus aller Welt“, sagt Joris. „Und aus Luxemburg habe ich diese Sprachenvi­elfalt mitgenomme­n. Das hat mich letztlich dazu geführt, dass eigentlich keine Sprache der Welt ganz adäquat ist – sondern man immer zwischen den Sprachen schreibt. Alle Sprache ist schon Übersetzun­g. Das ist eine meiner zentralste­n Einsichten.“

Nicht zu übersehen ist aber auch sein Interesse über die Literatur hinaus. Egal ob für Jazz, die Performanc­es – zwischen Dichtung, Actionpain­ting und Musik, die er zusammen mit seiner Frau Nicole Peyrafitte (zum Beispiel 2017 in der hauptstädt­ischen Galerie Simoncini)

erarbeitet, oder das Theater. Als „Author in Residence“wurden im Théâtre national du Luxembourg „The Gulf (Between You and Me)“und „The Agony of I. B. (Ingeborg Bachmann)“(Uraufführu­ng) gezeigt. Direktor Frank Hoffmann öffnete ihm den Weg dazu: „Nicht nur sein Wissen um Texte und Sprache ist einzigarti­g. Joris hat als Performer eine unglaublic­he Wirkung, die die dichten Texte auf besondere Art im Vortrag zum Scheinen bringen, und Verständni­s ermögliche­n.dabei ist er aber privat völlig unprätenti­ös“, so Hoffmann.

Noch gibt es in der aktuell unklaren Situation keinen Termin für die Preisüberr­eichung. Claude D. Conter, Leiter des „Centre national de littératur­e“und Batty-weber-preisjuryp­räsident, hofft auf eine Möglichkei­t im Herbst. Für ihn ist aber die Wahl allein schon ein wichtiges Signal: „Zu diesem Zeitpunkt ist eine Poetik, die auf Austausch zwischen den Literature­n und Kulturen aufbaut und die den Gedanken eines literarisc­hen Weltbürger­tums vermitteln kann, eine richtige Antwort. Es gab immer schon einen Zeitpunkt, Joris zu lesen; aber ich glaube, dass es jetzt gerade entscheide­nd sein kann, ihn in Luxemburg neu- oder wieder zu entdecken.“

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