Gestohlene Lebenszeit
Selten habe ich den Himmel über mir in diesem satten Azurblau gesehen wie in diesen Tagen. Auf Zeitungsfotos sehe ich das glasklare Wasser der venezianischen Lagune. Im vergangenen Sommer war sie noch ölverschmutzt. Eines der stärksten Bilder, die sich in meine Erinnerung eingegraben haben, sind die musizierenden Italiener auf ihren Balkonen. Und wer sich die Satellitenbilder von den Industriegebieten Chinas und Italiens anschaut, erlebt sie frei von Smog und stinkenden Abgasen. Effekte der Corona-krise? Es wäre nicht die einzige Überraschung, die wir in diesen Tagen erleben. Berührt hat mich der Auftritt des deutschen Bundestrainers Joachim Löw in einer Videokonferenz des Deutschen Fußball-bundes. Man kennt ihn durchaus als nachdenklichen Zeitgenossen, aber so erschüttert wie da erlebt man ihn selten. „Die Welt hat ein kollektives Burn-out erlebt. Die Erde scheint sich ein bisschen zu wehren gegen den Menschen, der immer denkt, dass er alles kann und alles weiß“, sagte Löw. Die Verschiebung der EM ins Jahr 2021, die Absage der März-länderspiele, der europaweite Spielstopp – all dies stellte Löw angesichts der Corona-krise ungerührt ins Abseits. Stattdessen riet der 60-Jährige zu einem anderen Lebensstil, zur Mäßigung und zu mehr Verständnis und Zuneigung füreinander. Machtgier, Profit und Rekorde hätten in der Vergangenheit immer mehr im Vordergrund gestanden. „Das Tempo, das wir vorgegeben haben, war nicht mehr zu toppen“, sagte Löw. Ich habe in meinem langen Leben als Kriegskind furchtbare Bombennächte überstanden und mich als kleiner Flüchtling vor einer wütenden Soldateska versteckt. So etwas aber wie diese mysteriöse Bedrohung durch einen unbekannten, unsichtbaren Feind habe ich noch nie erlebt. Und wer in einem Geschichtsbuch nach ähnlichen Ereignissen wie dieser Corona-tragödie in der Vergangenheit fahndet, muss länger zurückblättern. So ertrage ich also geduldig die Auflagen der Behörden und akzeptiere auch die Einschränkung meiner persönlichen Freiheit. Nur, dass zum Mittagessen nicht mehr meine Enkel Max, Ferdinand und Leo kommen dürfen, schmerzt mich sehr. Diese gestohlene Lebenszeit werden wir leider niemals zurückerhalten.