Der Spielmann
Johann fuhr sich mit der Zunge über Gaumen und Zähne. Noch immer spürte er die übel schmeckenden Krumen im Mund. „Schon die alten Griechen wussten, dass Asche entgiftet. Es hat wohl die schlimmsten Auswirkungen des Tranks gemildert. Wenn es auch mein Auge nicht gerettet hat“, fügte er verbittert hinzu.
Zitternd tastete er erneut nach dem Verband. Dann schob er das Tuch auf der einen Gesichtshälfte so zur Seite, dass das gesunde rechte Auge frei lag. Zunächst blieb alles dunkel, und Johann glaubte schon, vollständig erblindet zu sein. Doch dann nahm er erste Schemen um sich herum wahr. Er lag in einem dunklen Kellerraum auf dem Boden, an der gegenüberliegenden Wand zeichnete sich eine verschlossene Tür ab. Neben ihm kauerte ein zitterndes Bündel, das wohl Valentin war. Sein alter Freund sah noch elender aus als er selbst. Sein Körper wirkte seltsam verdreht, wie eine Puppe, der man die Fäden durchgeschnitten hatte.
„Es … es tut mir so leid, Johann“, stammelte Valentin. „Glaub mir, ich wollte nur Greta retten. Sie haben mich dazu gezwungen, dass ich dich genau in dieser Nacht hier herunterbringe. Es hat wohl etwas mit den Sternen zu tun, mit einem Kometen …“„Ich denke, wir sind quitt“, unterbrach ihn Johann. „Du …“
Ein Geräusch ließ ihn zusammenzucken. Es war ein Schlüssel, der sich knirschend im Schloss drehte.
Johann atmete tief durch.
Nun würden sie ihn also holen für das dritte Opfer. Sein Körper versteifte sich, der Puls raste. Er wollte keine Angst zeigen, doch er wusste, dass ihm das nicht gelingen würde. Hoffentlich konnte er mit seinem Opfer wenigstens Greta retten.
Was auch immer dieses Opfer war.
„Gott ist groß und allmächtig“, kam es über seine spröden Lippen. „Gott, gib mir Stärke …“Dabei fiel ihm auf, dass es schon sehr lange her war, dass er für sein eigenes Seelenheil zu Gott gebetet hatte. Vielleicht war jetzt der richtige Zeitpunkt.
„Der Herr ist mein Hirte“, begann er jenen Psalm, der vor ihm schon vielen Sterbenden und Ängstlichen Trost gespendet hatte. „Mir wird nichts mangeln. Er weidet mich auf einer grünen Aue und führet mich …“
„Herr Doktor, ich bin es …“Johann brach ab und wandte den bandagierten Kopf der Tür zu.
Dort standen keine Maskierten, keine wahnsinnigen Teufelsanhänger, kein Tonio …
Sondern Karl Wagner.
Von draußen drang Fackelschein in die dunkle Kammer, was den Umriss seines Gehilfen hell hervortreten ließ.
Was um alles in der Welt …?, fuhr es Johann durch den Kopf. Zum ersten Mal fragte er sich, ob es Gott vielleicht wirklich als leibhaftige Person gab. Und ob er hier in Gestalt Karl Wagners eben vor ihm stand.
Wagners Wams war schmutzig und zerrissen, das Haar hing ihm wirr ins Gesicht, in der Hand hielt er Valentins Schlüsselbund.
„Einer hat auch hier gepasst“, sagte er und lächelte dabei müde. „Gleich der erste. Wie gut, dass ich den Schlüsselbund behalten habe, als wir in die Lochgefängnisse hinaufgeklettert sind.“Ängstlich blickte er zurück in den dunklen Gang, der hinter der Tür lag. „Ich denke, wir haben nicht viel Zeit, sie werden sicher bald wieder hier sein.“
Johann keuchte, es klang wie ein Rasseln. Erst nach einer Weile fiel ihm auf, dass er wohl laut lachte. Ein Umstand, der ihm angesichts ihrer Situation so seltsam erschien, als würde er träumen.
„Mein Gott, Junge, dich schickt der Himmel!“, rief er schließlich aus.
„In diesem Fall muss ich Euch sogar zustimmen“, erwiderte Wagner. „Ich habe diese entsetzliche Teufelsmesse mit einem Bild unseres Heilands gestört. Jesus Christus im schimmernden Lichtkreis, der Anführer der Satanisten war nicht eben erfreut. Sie haben die Laterna magica zwar gleich darauf entdeckt und zerstört. Aber zumindest haben sie ihre Zeremonie für eine Weile unterbrochen und mich gesucht.“
„Und nun bist du zurückgekommen“, murmelte Johann. „Du bist nicht geflohen …“
Karl Wagner senkte den Blick. „Ich war Euch noch etwas schuldig, Ihr erinnert Euch? Ich denke, ich habe nun auch das Recht, meine Briefe zurückzuerhalten.“
„Verdammt, das hast du.“Johann erhob sich mühsam, und Wagner deutete auf den Verband auf Fausts Gesicht. Offenbar hatte er ihn im Zwielicht bislang nicht gesehen. „Was um Himmels Willen haben sie mit Euch gemacht?“
„Das ist jetzt unwichtig. Wichtig ist nur, wo sie Greta hingebracht haben.“
„Ich weiß zwar immer noch nicht, warum Euch die unbekannte Nichte eines Freundes so viel bedeutet. Aber sei’s drum.“Wagner
zuckte die Achseln. „Als ich mit der Laterna magica den Tumult auslöste, haben ein paar der Maskierten das Mädchen weggebracht.“Er zögerte. „Dieser unheimliche Kerl schrie irgendetwas, dass man sie in die Kirche bringen solle.“
„Wohl in die Sebalduskirche. Ich denke, sie wollen Greta als Faustpfand behalten“, mischte sich nun Valentin ein, der noch immer verkrümmt in der Ecke kauerte. Er stöhnte leise. „Erst wenn die dritte Opferung vollbracht ist, kommt sie vermutlich frei. Wenn sie sie nicht einfach als lästige Mitwisserin töten.“
„Er hat mir sein Wort gegeben“, sagte Johann nachdenklich, mehr zu sich selbst. „Daran ist er gebunden.“Er zögerte. „Wir müssen diese Leute in Sicherheit wiegen. Ich kann also nicht von hier weg. Wenn sie sehen, dass ich geflohen bin, werden sie Greta töten oder ihr noch Schlimmeres antun.“
Er musste an Tonios Worte am Altar denken. Es ist wie mit den Zicklein, jung schmecken sie am besten … Vielleicht nehme ich sie auch an Walpurgis mit, wo wir sie uns teilen …
„Verdammt!“, fluchte er. „Es muss eine Lösung geben, es gibt immer eine!“Doch so sehr Johann auch grübelte, er fand keine. Egal, ob er blieb oder floh – er würde seine Tochter nie wiedersehen, er war verloren.
Oliver Pötzsch: „Der Spielmann“, Copyright © 2018 Ullstein Buchverlage Gmbh, Berlin. ISBN 978-3-471-35159-8