Wie ein Virus die Verkehrswende bringt
Von Paris über Mailand bis New York entdecken Städte in der Krise die sanfte Mobilität
Im morgendlichen Berufsverkehr: Stau. Zur Mittagszeit: zäher Verkehr. Im nachmittäglichen Berufsverkehr: wieder Stau. Ein bekanntes Bild überall auf der Welt – auch in Luxemburg. Überall da, wo Tausende Menschen mit dem eigenen Auto in die Städte einpendeln, kommt der Verkehr selbst auf vielspurigen Straßen zum Erliegen. Blechkarawanen, Lärm und hohe Schadstoffbelastungen in der Luft sind die tagtäglichen Begleiterscheinungen.
Doch seit das Corona-virus die Welt in den Shutdown gezwungen hat und ein Großteil der Berufstätigen auf Heimarbeit umgestiegen ist, haben die Metropolen eine Atempause verschafft bekommen. Die Pendlerströme sind weltweit zum Erliegen gekommen; die Straßen sind freier, leiser, ruhiger geworden. Angesichts von Ausgangssperren in vielen Ländern sind die Menschen froh, wenn sie zum Einkaufen mal ein paar Schritte zu Fuß unterwegs sein können.
Menschen entdecken das Rad neu Und noch eine Begleiterscheinung der Corona-restriktionen zeigt sich vielerorts: Menschen entdecken den Nutzen des Fahrrads neu. Denn dieses ist nicht nur ein Freizeitund Sportgerät, sondern auch ein probates Verkehrsmittel, mit dem sich Fahrten zur Arbeit oder zum Einkaufen erledigen lassen. Das ist zwar in Amsterdam und Kopenhagen schon seit Jahrzehnten üblich, doch in Metropolen wie Rom oder Mailand kaum, da es flächendeckend an Radwegen fehlt. Dass nun die Straßen deutlich freier sind, nimmt vielen Menschen die Angst, sich in den fließenden Verkehr zu begeben.
Doch die Corona-krise zeigt auch ein großes Problem auf: Zwar wollen mehr und mehr Menschen draußen sein, Luft schnappen, radeln, joggen, flanieren, spielen. Doch der Platz, um dies mit dem nötigen Sicherheitsabstand zu tun, reicht bei Weitem nicht aus. Es ist zu eng auf Fuß- und Radwegen, den Großteil des Verkehrsraums beanspruchen Straßen: Mehrspurige Fahrbahnen, in denen das Tempo hoch ist und Radfahrer tendenziell als Störfaktoren wahrgenommen werden.
Städte wie Berlin und Paris haben das Dilemma schon vor Jahren erkannt – und arbeiten bereits länger an der Verkehrswende. In Paris ist es Bürgermeisterin Anne Hidalgo, die eine Vélorution anstrebt und in den vergangenen Jahren Radwege entlang viel befahrener Alleen einrichtete. So trauten sich viele Pariser, die bislang Angst vor dem schnellen Verkehr hatten, erstmals mit dem Velo auf die Straße. In Berlin gab es 2016 einen Volksentscheid Fahrrad, der großen Zuspruch hatte. 2018 folgte dann ein Mobilitätsgesetz, nach dem bei künftigen Straßenbaumaßnahmen die sanfte gegenüber der automobilen Mobilität bevorzugt werden muss.
Doch die Umsetzung ging schleppend voran. Nun, in Zeiten der Corona-krise, ziehen beide
Ob in London (oben), Bogotá (rechts) oder Paris
(unten): Überall dort, wo Städte dem Radverkehr mehr
Platz und sichere Wege einräumen, steigt der Anteil der sanften Mobilität. In der französischen Hauptstadt
achten Polizisten an der zentralen Verkehrsachse Rue
de Rivoli darauf, dass der motorisierte Verkehr draußen
bleibt.
Hauptstädte die schon fertigen Pläne aus der Tasche. Binnen Wochen werden Maßnahmen umgesetzt, die sonst Monate und Jahre Zeit brauchen. Auf vielspurigen Alleen wandeln die Behörden den rechten Fahrstreifen um, etwa, indem sie provisorische Radstreifen aufmalen. Deutlich sicherer und auch für ungeübte Radler, Kinder und Ältere ansprechend sind die „Protected Bike Lanes“: Geschützte Radwege, die mit Pollern von der Fahrbahn abgetrennt sind und somit auch nicht zugeparkt werden können.
Auch in der notorisch verstopften Metropole Mailand hat man die Gelegenheit beim Schopf gepackt. Jahrelang wurde vergeblich versucht, den Autoverkehr zu reduzieren. Die Krise nutzen die Verantwortlichen nun: „Das ist eine einmalige Gelegenheit, um einen frischen Blick auf die Straßen zu werfen“, sagte die Verkehrsexpertin Janette Sadik-khan dem „Guardian“.
Manche Umgestaltungsideen liegen schon länger in den Schubladen, werden nun zwar auf die Schnelle umgesetzt, sind aber dauerhaft angelegt. Andere Maßnahmen sind hingegen nur provisorisch für die Monate der Coronakrise
vorgesehen. Ob sie danach jedoch zurückgebaut werden, wenn die Menschen sich an Gastro-tische, Sitzbänke und Grün auf früheren Parkflächen und entspanntes Radeln auf ehemaligen Autospuren gewöhnt haben, das ist fraglich.
In jedem Fall haben die Maßnahmen das Potenzial, das Verständnis der Menschen vom Straßenverkehr zu verändern.
Mit der Rue de Rivoli wurde eine drei Kilometer lange Hauptstraße im Zentrum vorübergehend für den Autoverkehr gestoppt. Zudem soll die bereits länger geplante „Vélorution“mit deutlich mehr permanenten Radwegen und einer Abschaffung von 72 Prozent aller Straßenparkplätze beschleunigt werden.
London
Mehr dauerhafte Radwege, temporäre Radspuren, breitere Bürgersteige und bessere Ampelschaltungen sollen den Radverkehrsanteil verzehnfachen und den Fußverkehrsanteil verfünffachen.
Lima
In der peruanischen Hauptstadt sollen in drei Stufen knapp 300 Kilometer temporäre Radspuren entstehen.
New York
Angesichts des massiven Rückgangs des Autoverkehrs in Corona-zeiten sollen kurzfristig rund 160 Kilometer Straße für Autos und Lastwagen gesperrt, Bürgersteige erweitert und Radwege ausgebaut werden.