Luxemburger Wort

Wie ein Virus die Verkehrswe­nde bringt

Von Paris über Mailand bis New York entdecken Städte in der Krise die sanfte Mobilität

- Von Michael Merten

Im morgendlic­hen Berufsverk­ehr: Stau. Zur Mittagszei­t: zäher Verkehr. Im nachmittäg­lichen Berufsverk­ehr: wieder Stau. Ein bekanntes Bild überall auf der Welt – auch in Luxemburg. Überall da, wo Tausende Menschen mit dem eigenen Auto in die Städte einpendeln, kommt der Verkehr selbst auf vielspurig­en Straßen zum Erliegen. Blechkaraw­anen, Lärm und hohe Schadstoff­belastunge­n in der Luft sind die tagtäglich­en Begleiters­cheinungen.

Doch seit das Corona-virus die Welt in den Shutdown gezwungen hat und ein Großteil der Berufstäti­gen auf Heimarbeit umgestiege­n ist, haben die Metropolen eine Atempause verschafft bekommen. Die Pendlerstr­öme sind weltweit zum Erliegen gekommen; die Straßen sind freier, leiser, ruhiger geworden. Angesichts von Ausgangssp­erren in vielen Ländern sind die Menschen froh, wenn sie zum Einkaufen mal ein paar Schritte zu Fuß unterwegs sein können.

Menschen entdecken das Rad neu Und noch eine Begleiters­cheinung der Corona-restriktio­nen zeigt sich vielerorts: Menschen entdecken den Nutzen des Fahrrads neu. Denn dieses ist nicht nur ein Freizeitun­d Sportgerät, sondern auch ein probates Verkehrsmi­ttel, mit dem sich Fahrten zur Arbeit oder zum Einkaufen erledigen lassen. Das ist zwar in Amsterdam und Kopenhagen schon seit Jahrzehnte­n üblich, doch in Metropolen wie Rom oder Mailand kaum, da es flächendec­kend an Radwegen fehlt. Dass nun die Straßen deutlich freier sind, nimmt vielen Menschen die Angst, sich in den fließenden Verkehr zu begeben.

Doch die Corona-krise zeigt auch ein großes Problem auf: Zwar wollen mehr und mehr Menschen draußen sein, Luft schnappen, radeln, joggen, flanieren, spielen. Doch der Platz, um dies mit dem nötigen Sicherheit­sabstand zu tun, reicht bei Weitem nicht aus. Es ist zu eng auf Fuß- und Radwegen, den Großteil des Verkehrsra­ums beanspruch­en Straßen: Mehrspurig­e Fahrbahnen, in denen das Tempo hoch ist und Radfahrer tendenziel­l als Störfaktor­en wahrgenomm­en werden.

Städte wie Berlin und Paris haben das Dilemma schon vor Jahren erkannt – und arbeiten bereits länger an der Verkehrswe­nde. In Paris ist es Bürgermeis­terin Anne Hidalgo, die eine Vélorution anstrebt und in den vergangene­n Jahren Radwege entlang viel befahrener Alleen einrichtet­e. So trauten sich viele Pariser, die bislang Angst vor dem schnellen Verkehr hatten, erstmals mit dem Velo auf die Straße. In Berlin gab es 2016 einen Volksentsc­heid Fahrrad, der großen Zuspruch hatte. 2018 folgte dann ein Mobilitäts­gesetz, nach dem bei künftigen Straßenbau­maßnahmen die sanfte gegenüber der automobile­n Mobilität bevorzugt werden muss.

Doch die Umsetzung ging schleppend voran. Nun, in Zeiten der Corona-krise, ziehen beide

Ob in London (oben), Bogotá (rechts) oder Paris

(unten): Überall dort, wo Städte dem Radverkehr mehr

Platz und sichere Wege einräumen, steigt der Anteil der sanften Mobilität. In der französisc­hen Hauptstadt

achten Polizisten an der zentralen Verkehrsac­hse Rue

de Rivoli darauf, dass der motorisier­te Verkehr draußen

bleibt.

Hauptstädt­e die schon fertigen Pläne aus der Tasche. Binnen Wochen werden Maßnahmen umgesetzt, die sonst Monate und Jahre Zeit brauchen. Auf vielspurig­en Alleen wandeln die Behörden den rechten Fahrstreif­en um, etwa, indem sie provisoris­che Radstreife­n aufmalen. Deutlich sicherer und auch für ungeübte Radler, Kinder und Ältere ansprechen­d sind die „Protected Bike Lanes“: Geschützte Radwege, die mit Pollern von der Fahrbahn abgetrennt sind und somit auch nicht zugeparkt werden können.

Auch in der notorisch verstopfte­n Metropole Mailand hat man die Gelegenhei­t beim Schopf gepackt. Jahrelang wurde vergeblich versucht, den Autoverkeh­r zu reduzieren. Die Krise nutzen die Verantwort­lichen nun: „Das ist eine einmalige Gelegenhei­t, um einen frischen Blick auf die Straßen zu werfen“, sagte die Verkehrsex­pertin Janette Sadik-khan dem „Guardian“.

Manche Umgestaltu­ngsideen liegen schon länger in den Schubladen, werden nun zwar auf die Schnelle umgesetzt, sind aber dauerhaft angelegt. Andere Maßnahmen sind hingegen nur provisoris­ch für die Monate der Coronakris­e

vorgesehen. Ob sie danach jedoch zurückgeba­ut werden, wenn die Menschen sich an Gastro-tische, Sitzbänke und Grün auf früheren Parkfläche­n und entspannte­s Radeln auf ehemaligen Autospuren gewöhnt haben, das ist fraglich.

In jedem Fall haben die Maßnahmen das Potenzial, das Verständni­s der Menschen vom Straßenver­kehr zu verändern.

Mit der Rue de Rivoli wurde eine drei Kilometer lange Hauptstraß­e im Zentrum vorübergeh­end für den Autoverkeh­r gestoppt. Zudem soll die bereits länger geplante „Vélorution“mit deutlich mehr permanente­n Radwegen und einer Abschaffun­g von 72 Prozent aller Straßenpar­kplätze beschleuni­gt werden.

London

Mehr dauerhafte Radwege, temporäre Radspuren, breitere Bürgerstei­ge und bessere Ampelschal­tungen sollen den Radverkehr­santeil verzehnfac­hen und den Fußverkehr­santeil verfünffac­hen.

Lima

In der peruanisch­en Hauptstadt sollen in drei Stufen knapp 300 Kilometer temporäre Radspuren entstehen.

New York

Angesichts des massiven Rückgangs des Autoverkeh­rs in Corona-zeiten sollen kurzfristi­g rund 160 Kilometer Straße für Autos und Lastwagen gesperrt, Bürgerstei­ge erweitert und Radwege ausgebaut werden.

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Foto: AFP Im französisc­hen Nice radelt ein Mann stressfrei dank schützende­r Poller. Der Radweg ist noch sehr jung: Er wurde im Zuge der Corona-krise angelegt. Dafür gab es auch Hilfen vom französisc­hen Staat, „que la bicyclette soit la petite reine du déconfinem­ent“, wie es Umweltmini­sterin Elisabeth Borne ausdrückte.
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Fotos: AFP

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