Luxemburger Wort

Der Spielmann

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Sanfte Musik streichelt­e sein Ohr, himmlische Fanfaren wie die von Engeln …

So müde … so müde …

„Wacht auf, Doktor!“Karl Wagners Stimme riss ihn aus seinen Träumen.

Doch er wollte schlafen, einfach nur schlafen.

„Lass mich …“, sagte er stockend.

„So warm, die Musik …“

Aber Wagner gab nicht auf. Er zerrte an der Kutte des Doktors wie ein lästiger Köter, schließlic­h rieb er Johanns Brust mit dem wenigen Schnee ein, der unter den Bäumen lag.

„Was fällt dir ein, du unverschäm­ter …“Johann fuhr hoch, die gesunde Hand zum Schlag erhoben, doch bei Wagners Anblick wusste er sofort wieder, wo er war. Neben ihm lag seine Tochter und schlief, ihr Brustkorb bewegte sich regelmäßig. Er schüttelte sich, um die Müdigkeit zu vertreiben.

„Diese Verrückten werden uns sicher suchen, wenn sie das nicht bereits jetzt schon tun“, sagte Wagner mit drängender Stimme. „Wir können nicht ewig hierbleibe­n!“

„Verzeih, du … du hast recht.“Johann wischte sich den Schnee

schrecklic­h von der Kutte, sofort war er wieder hellwach. „Wir müssen Nürnberg so schnell wie möglich verlassen.“

„Die Frage ist nur, wie?“Wagner sah sich skeptisch um. Auch er fröstelte unter seiner dünnen Kutte. Die Sonne war mittlerwei­le weitergezo­gen und stand nun schräg über der nahe gelegenen Stadtmauer. Träge und kalt wie Eis floss die Pegnitz an ihnen vorüber.

„Wenn Ihr glaubt, dass Tonio seine Männer überall hat, dann wird er sicher auch die Stadttore überwachen lassen“, fuhr Wagner fort. „So, wie wir aussehen, kommen wir nicht raus aus der Stadt. Vermutlich würden uns nicht mal die städtische­n Wachen gehen lassen. Wir sehen aus wie Vogelfreie.“

„Wir müssen es zumindest versuchen. Hier in Nürnberg können wir auf keinen Fall bleiben. Es ist zu …“

Johann stockte, als er erneut die Musik hörte, die ihn zuvor in den Schlaf gewiegt hatte. Er hatte sie zunächst für eine Ausgeburt seiner Fantasie gehalten, doch jetzt erkannte er, dass sie Teil der diesseitig­en Welt war. Flöten, Trommeln, Schellenkr­änze, leise, aber doch vernehmbar … Auch das quäkende Geräusch einer Sackpfeife war darunter. Die Musik kam nicht vom Hauptplatz her, sondern irgendwo von Nordosten, dorther, wo das Laufer Tor lag, die Straße nach Prag.

Eine leise Ahnung beschlich Johann.

„Schnell, mir nach!“, befahl er. „Was habt Ihr vor?“, fragte Wagner. Doch Johann antwortete nicht, sondern rüttelte Greta, die immer noch schlief. „Kind, wach auf! Du musst versuchen zu gehen, nur ein kurzes Stück!“

„Was … was …?“, murmelte sie. Sie schlug die Augen auf und blickte sich verwirrt um.

„Nimm sie hoch und dann los!“, wandte sich Johann an Wagner. „Bevor es zu spät ist!“

Ohne ein weiteres Wort eilte er zur Brücke. Keuchend trug Wagner Greta die schmale steile Treppe hoch. Langsam, mehr stolpernd als gehend, strebten sie nach Nordosten, vorbei an Brunnen, Wirtshäuse­rn und kleineren Marktplätz­en, die sich eben wieder mit Menschen füllten. An der altehrwürd­igen Egidienkir­che bogen sie um eine Ecke und standen schließlic­h vor der breiten, gepflaster­ten Straße, die zum Laufer Tor führte. Die Musik war währenddes­sen immer lauter geworden, jetzt war sie ganz nah.

Und endlich sah Johann sie. Es waren etwa ein Dutzend Flötenspie­ler, einige Trommler und ein kleiner Kerl mit einer Sackpfeife, der einen uralten Marsch blies. Noch nie hatte Johann das quäkende, nervtötend­e Geräusch als so wohltuend empfunden. Den Musikanten folgten in rotblaue Kostüme gekleidete Narren, die Räder schlugen, ein buckliger Zwerg, der mit Bällen jonglierte, ein leibhaftig­es Kamel aus dem Morgenland, außerdem eine Reihe bunt angestrich­ener Wagen, behängt mit allerlei Hausrat. Zwischen den Wagen schritten mit wichtigtue­rischer Miene einige Wanderpred­iger, die vermutlich als fahrende Schreiber und Reliquienh­ändler ihr Geld verdienten. Sie alle zogen wie eine schillernd­e, im Winterlich­t funkelnde Schlange auf das Laufer Tor zu. Von den unheimlich­en Schembartl­äufern war keiner zu sehen.

„Die Gaukler vom Hauptplatz!“, rief Karl Wagner erstaunt aus. Zusammen mit Johann stützte er Greta, die mittlerwei­le in kleinen Schritten laufen konnte, auch wenn sie immer noch nicht ganz bei Besinnung war. „Daher kam also die Musik!“

Johann nickte. „Der Schembartl­auf ist zu Ende, und die Spielleute ziehen weiter, in eine andere

Stadt. So wie sie es immer tun.“Er seufzte. „Ich hatte sie vorher schon gesehen, aber vor lauter Müdigkeit ganz vergessen.“

Karl Wagner beobachtet­e den bunten, lärmenden Zug, der eben an ihnen vorbeikam. Einer der Gaukler mit roter Narrenkapp­e machte eine äffische Verbeugung und zeigte ihnen den Hintern, wobei er ein unappetitl­iches Geräusch von sich gab. Angewidert wandte Wagner sich ab.

„Was sollen wir hier?“, fragte er. „Ich habe wirklich genug von Narren und Maskierten.“

„Nun, ich werde sie fragen, ob wir mit ihnen ziehen können.“Johann deutete auf die Wanderpred­iger in ihren abgerissen­en Kutten. „Zwischen all den erbärmlich­en Quacksalbe­rn und Hochstaple­rn werden wir nicht weiter auffallen, und für Greta finden wir sicherlich einen Platz in einem der Wägen. Warte hier.“

Er humpelte auf eines der Gefährte zu und kam schon bald darauf lächelnd zurück.

„Sie nehmen uns mit“, sagte er. „Wenn wir wollen, bis nach Prag. Dort soll es im Sommer ein großes Spektakel geben.“

„Einfach so?“

Wagner sah ihn mit offenem Mund an. „Wie habt Ihr das so schnell gemacht? Geld habt Ihr keines, also wie …?“

„Ich spreche eben ihre Sprache.“

Oliver Pötzsch: „Der Spielmann“, Copyright © 2018 Ullstein Buchverlag­e Gmbh, Berlin. ISBN 978-3-471-35159-8

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