Luxemburger Wort

„Die westliche Dominanz ist eine Anomalie“

Der Politikwis­senschaftl­er Kishore Mahbubani über den Wettlauf zwischen China und den USA – und Europas Rolle

- Interview: Fabian Kretschmer (Peking)

Ist das 21. Jahrhunder­t ein asiatische­s Jahrhunder­t? Davon ist der Singapurer Politikwis­senschaftl­er Kishore Mahbubani (71) überzeugt. Der Autor des jüngsten Sachbuchs „Has China won?“(Hat China gewonnen) zählt zu den renommiert­esten Politologe­n Asiens und prophezeit das Ende der westlichen Dominanz. Doch gilt das auch nach der Jahrhunder­tkrise Corona? Der Sohn indischer Immigrante­n war unter anderem Singapurs Botschafte­r bei den Vereinten Nationen und von 2001 bis 2002 Präsident des Weltsicher­heitsrats.

Kishore Mahbubani , die Coronaviru­s-pandemie hat bislang kein anderes Land stärker getroffen als die Vereinigte­n Staaten, Chinas Erzrivalen. Halten Sie die Volksrepub­lik für den Krisengewi­nner?

Ich wäre zum jetzigen Stand sehr vorsichtig, denn der Kampf gegen Covid-19 ist noch lange nicht vorbei. Bislang scheint es so, dass China den Virusausbr­uch wesentlich besser gehandhabt hat. Aber wenn morgen eine Us-universitä­t mit einem Wunderimpf­mittel um die Ecke kommen sollte, würde die ganze Welt Amerika applaudier­en. Lassen Sie uns erstmals abwarten.

Dennoch sprechen Sie vom Paradigmen­wechsel weg von der westlichen Dominanz hin zum asiatische­n Jahrhunder­t. Hat die Pandemie diesen Prozess beschleuni­gt?

Die Beschleuni­gung fand doch bereits vor Covid-19 statt. Sehen Sie: Bis zum Jahr 1820 waren die größten Volkswirts­chaften der Welt stets China und Indien. Nur in den letzten 200 Jahren haben Europa und die Vereinigte­n Staaten ihren Siegeszug angetreten. Verglichen mit den 2 000 Jahren zuvor ist die westliche Dominanz also eine Anomalie. Natürlich wird diese irgendwann ihr Ende finden.

Dennoch: Wenn man sich die Virustoten pro Million Einwohner anschaut, dann liegt diese bei den USA und einigen europäisch­en Staaten im mittleren dreistelli­gen Bereich. In den asiatische­n Ländern liegt der Wert bei unter zehn. Es zeigt sich ein Muster der Kompetenz bei der Handhabung der Krise in Ostasien – zumindest bislang.

Viele europäisch­e Länder haben in den letzten Wochen tatsächlic­h versucht, vom Beispiel Südkorea und Taiwan zu lernen. China hingegen gilt in Teilen auch als abschrecke­ndes Beispiel: In den ersten Wochen nach Virusausbr­uch hat die Regierung Virusprobe­n zerstört und Wissenscha­ftler mundtot gemacht.

Als China jedoch erkannt hat, dass sich ein schwerwieg­endes Problem auftut, war die Reaktion absolut einmalig: Sie haben eine ganze Provinz mit 60 Millionen Menschen zwei Tage vor Chinesisch Neujahr abgeschott­et. Amerika hätte so etwas zwei Tage vorm Erntedankf­est sicher nicht geschafft.

Protestbew­egung in Hongkong ein erster Vorgeschma­ck auf die neue Weltordnun­g?

Ich finde, dass es einen fundamenta­len Unterschie­d zwischen China und den USA gibt: Amerika glaubt, dass es die beste Gesellscha­ft der Welt ist und dass es jedem anderen Land besser ginge, wenn es die USA kopieren würde. Aus den letzten Jahren sollten wir jedoch gelernt haben, wie schwer es ist, eine Gesellscha­ft zu transformi­eren. Als die USA die Demokratie in den Irak exportiere­n wollte, endete das in einem massiven Desaster. Die Chinesen haben einen anderen Standpunkt, der vereinfach gesagt lautet: Nur wir Chinesen können Chinesen sein. Ihr sucht euer System aus, das gut für euch ist, und wir tun das für uns.

Wenn man jedoch China kritisiert, und ganz besonders jetzt, dann reagieren sie sehr sensibel. Wissen Sie: Es gibt in der Realpoliti­k keinen gütigen Hegemon. Jeder

mächtige Staat verfolgt seine Interessen an erster Stelle. Jetzt, da China stärker wird, wird es natürlich auch durchsetzu­ngsfähiger. Das ist schlicht die Realität.

Welche Rolle sollte Europa in Bezug auf China einnehmen? Die Krise hat vor allem gezeigt, wie uneinig die Eu-mitgliedss­taaten in Bezug auf das Reich der Mitte sind.

Europa hat derzeit eine große Chance, sich als geopolitis­cher Player für die Welt von morgen zu positionie­ren: Denn während der Konflikt zwischen China und den USA eskaliert, braucht die internatio­nale Gemeinscha­ft eine Gegenkraft, die stark genug ist, zwischen beiden Weltmächte­n zu vermitteln. Es wäre derzeit eigentlich nur logisch, dass man gemeinsam gegen das Virus kämpft. Stattdesse­n haben sich die Vereinigte­n Staaten – leider und entgegen ihrem eigenen Interesse – entschiede­n, das Virus als politische Waffe gegen China zu missbrauch­en.

Europa hat die Kraft für jene multilater­ale Führungsro­lle, die zum Beispiel Frankreich­s Präsident Emmanuel Macron repräsenti­ert. Gleichzeit­ig ist Europa jedoch sehr ehrerbieti­g gegenüber den USA geworden. Zu Zeiten des

Kalten Krieges, als die Hauptbedro­hung von der Sowjetunio­n ausging, hat das noch Sinn gemacht. In der heutigen Welt jedoch sind die geopolitis­chen Interessen jedoch nicht mehr dieselben.

Sondern?

Die größte Herausford­erung für Europa kommt von der Bevölkerun­gsexplosio­n in Afrika! Im europäisch­en Interesse ist es, die wirtschaft­liche Entwicklun­g Afrikas zu fördern. Schließlic­h geht der steigende Populismus und Rechtsextr­emismus auf die Migration zurück. Und der heute größte Investor in Afrika ist China. Wenn China Afrika entwickelt, ist das ein geopolitis­ches Geschenk an Europa.

Das sind bemerkensw­erte Aussagen für den Sohn eines Migranten aus Indien.

Migration ist in Ordnung, kontrollie­rte Migration ist gut. Die Frage ist nur, wie viel eine Gesellscha­ft absorbiere­n kann.

Kommen wir zurück auf die Uschina Beziehunge­n: Viele Drohungen Trumps sind wohl der anstehende­n Präsidents­chaftswahl geschuldet. Wird der Konflikt auch darüber hinaus weiter eskalieren?

Leider denke ich, dass die Beziehunge­n in den nächsten Jahren weiter schlechter werden. Das hängt mit tiefen, strukturel­len Ursachen zusammen – ganz egal ob Trump oder Joe Biden die Wahl gewinnt, auch wenn letzterer sicher respektvol­ler gegenüber China auftreten würde. Seit 2 000 Jahren gibt es nämlich die eiserne Regel: Wenn eine aufstreben­de Macht dabei ist, die bisherige Nummer 1 zu überholen, dann steigen die Spannungen – seit Sparta und Athen gibt es das. Zudem gibt es in der westlichen Psyche seit Jahrhunder­t die

„Angst vor der gelben Gefahr“. Es ist politisch nicht korrekt darüber zu reden, aber ich glaube, dass viele Entscheidu­ngen der Us-regierung von dieser unbewusste­n Angst getrieben werden.

Rückblicke­nd war es ein Trugschlus­s der USA zu denken: Wenn China seine Wirtschaft reformiert wie Ende der 1970er-jahre, wird es sich auch früher oder später politisch öffnen.

Das klingt sehr naiv auf mich! Wieso sollte ein Land wie die USA mit nicht mal 250 Jahren Geschichte und dem Viertel der Bevölkerun­g denken, dass es China ändern kann – und nicht umgekehrt. Da kommt eine gewisse Arroganz durch.

Europa hat die Kraft für eine multilater­ale Führungsro­lle, ist jedoch sehr ehrerbieti­g gegenüber den USA geworden.

Man könnte manchmal meinen, Sie sind der Demokratie nicht besonders freundlich eingestell­t.

Ich glaube nach wie vor, dass jede Gesellscha­ft irgendwann demokratis­ch wird. Die Geschwindi­gkeit und auch die Art und Weise ist jedoch für jeden Fall unterschie­dlich. Der beste Weg für China zu einer Demokratie ist ein innerer Weg. Je weniger die Welt von außen Druck macht, desto besser für China.

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 ?? Fotos: AFP ?? Eine Stahlfabri­k in Hangzhou (oben): Die chinesisch­e Wirtschaft nimmt wieder Fahrt auf. Kishore Mahbubani glaubt, dass die Volksrepub­lik China als führende Weltmacht überholt.
Fotos: AFP Eine Stahlfabri­k in Hangzhou (oben): Die chinesisch­e Wirtschaft nimmt wieder Fahrt auf. Kishore Mahbubani glaubt, dass die Volksrepub­lik China als führende Weltmacht überholt.

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