Selbstgewählte Isolation
Weshalb Marlene Dietrich und andere Stars jahrelang im Bett lagen
Marlene Dietrich, Maria Schell und Howard Hughes sind die Oblomows der Filmgeschichte. Wie der Titelheld aus Iwan Gontscharows Roman lagen sie jahrelang im Bett und weigerten sich, aufzustehen. Während jedoch Oblomow bereits im Alter von 30 Jahren den Rückzug antrat, sagten Dietrich, Schell und Hughes erst nach einem bewegten Leben der Welt Adieu.
In Quarantänezeiten faszinieren Stars in selbstgewählter Isolation besonders, und sie sind sympathischer als Diven in Badewannen: Kürzlich postete Madonna ein Video, in dem sie, ein mit Rosenblüten verziertes Milchbad genießend, ihren Fans weismachen wollte, dass wir durch Covid-19 nun alle in einem Boot sitzen. Mehr Heuchelei war selten.
Ein Shitstorm gegen Madonna war die wohlfeile Reaktion in den sogenannten sozialen Netzwerken. Übersehen wurde dabei jedoch, dass der Pop-star in erster Linie das Symptom einer allgemeinen, seit mindestens drei Jahrzehnten andauernden Entwicklung ist: War der Star einstmals der über den Dingen Schwebende, der Unerreichte, bemüht sich heute nahezu jeder Schauspieler, Sänger oder Sportler um das Prädikat „bodenständig“.
Auch vorbildlich soll der Star sein – das heißt, nicht rauchen, den Konsum von Drogen immer artig beichten und vielleicht etwas für das Klima tun, zum Beispiel Linienflugzeuge benutzen. Dabei sind Stars nicht wie wir, und sie taugen nicht zum Vorbild. Und schon gar nicht sitzen wir mit ihnen in einer Wanne.
Die Stars von einst hätten das auch nie behauptet. Sie wollten überirdisch sein, wollten fliegen, wie jener kleine Junge, der, in einer Badewanne stehend, von seiner Mutter gewaschen wird, und währenddessen buchstabieren muss: „Q-u-a-r-a-n-t-ä-n-e“. Krankheiten lauern überall, nie, sagt sie warnend, sei er in Sicherheit.
Mit dieser Szene beginnt Martin Scorseses Biopic „The Aviator“über den legendären Milliardär, Flugzeugfabrikanten und Filmproduzenten Howard Hughes. Sie soll der Schlüssel sein, um den komplexen Charakter aufzuschließen. Später wird sich Hughes manisch die Hände waschen – bis das Blut fließt. Er wird größere Angst vor Türklinken entwickeln als vor halsbrecherischen Flügen. Der 1976 bei einem Flugzeugabsturz verunglückte Exzentriker wird tatsächlich die letzten beiden Jahrzehnte seines Lebens in einer Art Quarantäne zubringen.
Zeigt „The Aviator“mit Leonardo Dicaprio einen Hughes, der sich bereits in den 1940er-jahren monatelang in seinem Privatkino verschanzte, um rund um die Uhr Filme zu sehen, setzt der 2016 erschienene, leider kaum wahrgenommene Film „Rules Don’t Apply“im Jahr 1958 ein, als Hughes noch einmal in Hollywood mitmischen will. Bald darauf aber zieht er sich in Hotelsuiten zurück, delegiert sein Personal – dem Zauberer von Oz gleich – durch eine Sprechanlage, lässt Unmengen Banane-nuss-eiscrème einfliegen und schaut vom Bett aus ununterbrochen Filme.
Warren Beatty, der auch die Regie führte, spielt einen Hughes, der vor allem darunter zu leiden scheint, dass die Wirklichkeit kein Film ist, sondern nur ein mangelhafter Abklatsch.
Während des Lockdowns werden nun händeringend gangbare Modelle gesucht, an denen sich ein jeder orientieren kann. Doch dem finanziell völlig unabhängigen Hughes nachzueifern, könnte schwierig werden. Immerhin aber muss man nicht mehr wie Hughes einen Fernsehsender aufkaufen, um nachts die Programmleitung anzurufen, damit ein gewünschter Film augenblicklich gesendet wird. Wir streamen. Hingerissen ist man dennoch, dass sich ein Mensch derart der Fiktion verschreibt, bis er selbst zur Legende wird.
„Zu Tode fotografiert“
Der Rückzug ist entscheidend, damit noch die Nachwelt die Aura des Mysteriums verspüren kann. Auch Marlene Dietrich wusste das. Nachdem sie ein Vierteljahrhundert durch die Konzertsäle der Welt getourt war, zog sie sich im Alter von 75 Jahren aus der Öffentlichkeit zurück. Ihre letzten 15 Jahre verbrachte sie in ihrer Pariser
Leonardo Dicaprio als Howard Hughes
in dem Film „The Aviator“
Wohnung, nur das Telefon verband sie mit der Außenwelt.
Als Maximilian Schell 1982 eine Dokumentation über sie drehen wollte, willigte Dietrich unter der Bedingung ein, dass sie nicht gefilmt wird. Die Begründung wurde zur Sentenz: „Ich bin zu Tode fotografiert worden.“
Schell besuchte sie sechs Tage in Paris, nur ein Tonband durfte mitlaufen. Daraus schuf der Ausnahmekünstler das dokumentarische Meisterwerk „Marlene“, eine assoziative Collage aus altem Filmmaterial und den launigen Kommentaren der lebenden Legende, ein intelligenter Essay über Absenz und Präsenz. Der Star hat wie der König zwei Körper – einen unsterblichen, auf Celluloid gebannten und einen, der immer gebrechlicher wird. Mit frappierender Logik erklärte die Dietrich ihrer Tochter Maria, dass, wer nicht mehr aufsteht, nicht mehr fällt.
Folglich verbrachte sie ihr letztes Lebensjahrzehnt vollständig im Bett. Auch eine Form der Quarantäne, über die sie, wie sie Schell erzählt, nicht unglücklich zu sein schien: „Ich lese Bücher, ich kenne gar keine Einsamkeit. Wer Bücher liest, ist nie einsam.“Böll und Grass verschlang sie, schrieb selbst bemerkenswert gute, inzwischen unter dem Titel „Nachtgedanken“edierte Gedichte. Filme allerdings interessierten sie nicht mehr, schon gar nicht die eigenen. „Sie sind ein alter Filmnarr“, herrscht sie Schell in der Doku an, als dieser ihr auf einem Fernseher ihre mit Josef von Sternberg gedrehten Werke zeigt.
„Jetzt sollen eben die anderen
für mich sorgen“
Ganz anders als Schells Schwester Maria. Ihr setzte der Bruder mit „Meine Schwester Maria“2002 ein Denkmal. Durch mehrere Schlaganfälle hatte sich in Maria Schells Kopf etwas verschoben, die Trennung zwischen Realität und Fiktion wurde unscharf. Maximilian Schell zeigt seine Schwester, wie sie sich vom Bett aus Stunde um Stunde auf mehreren Fernsehern parallel ihre alten Filme ansieht. Und einmal schaut sie auch den Katastrophenfilm „Deep Impact“, in dem ihr Bruder mitspielt und am Strand den Aufprall eines Kometen erwartet. Sofort greift Maria Schell zum Telefon, um sich von ihrer Familie zu verabschieden. Film und Wirklichkeit sind eins geworden.
In der Dokumentation „Meine Schwester Maria“sieht sich Maria Schell stundenlang ihre eigenen Filme an. In anderen Szenen jedoch artikuliert sie, die man „Seelchen“nannte, ihre Entscheidung für das Bett klar und deutlich: „Ich habe so vielen Menschen Freude gegeben als Schauspielerin, jetzt sollen eben die anderen für mich sorgen.“Und außerdem: „Hab ich nicht das Recht, einfach nur da zu sein?“
Einfach da sein, nichts leisten zu müssen, nichts tun. Die Frage könnte von Oblomow stammen, der sich in seine Kindheit auf dem Land zurück träumt, als ein Tag wie der andere verging. Ein Locus amoenus, den auch Maria Schell suchte und auf der Preitenegger Alm ihrer Eltern, zu der sie für ihren Lebensabend zurückgekehrt war, fand.
Ja, Stars, die in Betten liegen, sind nicht wie wir, die wir im Home-office sitzen oder gar draußen als Stützen der Gesellschaft fungieren müssen. Doch diese radikalen Lebensabendentwürfe konfrontieren uns mit einer Fremdheitserfahrung, wie sie sonst nur die Fiktion bereithält. Alles das gibt es, sehen wir in „The Aviator“, „Rules Don’t Apply“, „Marlene“und „Meine Schwester Maria“plötzlich – wir, die bis vor kurzem alles als alternativlos betrachteten. Unsere Wirklichkeit hat sich nun der Fiktion angenähert. Wer also kann, sollte liegen bleiben, lesen und Filme schauen. Maria Schell sagte dazu: „Paradise now!“