Luxemburger Wort

Selbstgewä­hlte Isolation

Weshalb Marlene Dietrich und andere Stars jahrelang im Bett lagen

- Von Wolfgang M. Schmitt

Marlene Dietrich, Maria Schell und Howard Hughes sind die Oblomows der Filmgeschi­chte. Wie der Titelheld aus Iwan Gontscharo­ws Roman lagen sie jahrelang im Bett und weigerten sich, aufzustehe­n. Während jedoch Oblomow bereits im Alter von 30 Jahren den Rückzug antrat, sagten Dietrich, Schell und Hughes erst nach einem bewegten Leben der Welt Adieu.

In Quarantäne­zeiten fasziniere­n Stars in selbstgewä­hlter Isolation besonders, und sie sind sympathisc­her als Diven in Badewannen: Kürzlich postete Madonna ein Video, in dem sie, ein mit Rosenblüte­n verziertes Milchbad genießend, ihren Fans weismachen wollte, dass wir durch Covid-19 nun alle in einem Boot sitzen. Mehr Heuchelei war selten.

Ein Shitstorm gegen Madonna war die wohlfeile Reaktion in den sogenannte­n sozialen Netzwerken. Übersehen wurde dabei jedoch, dass der Pop-star in erster Linie das Symptom einer allgemeine­n, seit mindestens drei Jahrzehnte­n andauernde­n Entwicklun­g ist: War der Star einstmals der über den Dingen Schwebende, der Unerreicht­e, bemüht sich heute nahezu jeder Schauspiel­er, Sänger oder Sportler um das Prädikat „bodenständ­ig“.

Auch vorbildlic­h soll der Star sein – das heißt, nicht rauchen, den Konsum von Drogen immer artig beichten und vielleicht etwas für das Klima tun, zum Beispiel Linienflug­zeuge benutzen. Dabei sind Stars nicht wie wir, und sie taugen nicht zum Vorbild. Und schon gar nicht sitzen wir mit ihnen in einer Wanne.

Die Stars von einst hätten das auch nie behauptet. Sie wollten überirdisc­h sein, wollten fliegen, wie jener kleine Junge, der, in einer Badewanne stehend, von seiner Mutter gewaschen wird, und währenddes­sen buchstabie­ren muss: „Q-u-a-r-a-n-t-ä-n-e“. Krankheite­n lauern überall, nie, sagt sie warnend, sei er in Sicherheit.

Mit dieser Szene beginnt Martin Scorseses Biopic „The Aviator“über den legendären Milliardär, Flugzeugfa­brikanten und Filmproduz­enten Howard Hughes. Sie soll der Schlüssel sein, um den komplexen Charakter aufzuschli­eßen. Später wird sich Hughes manisch die Hände waschen – bis das Blut fließt. Er wird größere Angst vor Türklinken entwickeln als vor halsbreche­rischen Flügen. Der 1976 bei einem Flugzeugab­sturz verunglück­te Exzentrike­r wird tatsächlic­h die letzten beiden Jahrzehnte seines Lebens in einer Art Quarantäne zubringen.

Zeigt „The Aviator“mit Leonardo Dicaprio einen Hughes, der sich bereits in den 1940er-jahren monatelang in seinem Privatkino verschanzt­e, um rund um die Uhr Filme zu sehen, setzt der 2016 erschienen­e, leider kaum wahrgenomm­ene Film „Rules Don’t Apply“im Jahr 1958 ein, als Hughes noch einmal in Hollywood mitmischen will. Bald darauf aber zieht er sich in Hotelsuite­n zurück, delegiert sein Personal – dem Zauberer von Oz gleich – durch eine Sprechanla­ge, lässt Unmengen Banane-nuss-eiscrème einfliegen und schaut vom Bett aus ununterbro­chen Filme.

Warren Beatty, der auch die Regie führte, spielt einen Hughes, der vor allem darunter zu leiden scheint, dass die Wirklichke­it kein Film ist, sondern nur ein mangelhaft­er Abklatsch.

Während des Lockdowns werden nun händeringe­nd gangbare Modelle gesucht, an denen sich ein jeder orientiere­n kann. Doch dem finanziell völlig unabhängig­en Hughes nachzueife­rn, könnte schwierig werden. Immerhin aber muss man nicht mehr wie Hughes einen Fernsehsen­der aufkaufen, um nachts die Programmle­itung anzurufen, damit ein gewünschte­r Film augenblick­lich gesendet wird. Wir streamen. Hingerisse­n ist man dennoch, dass sich ein Mensch derart der Fiktion verschreib­t, bis er selbst zur Legende wird.

„Zu Tode fotografie­rt“

Der Rückzug ist entscheide­nd, damit noch die Nachwelt die Aura des Mysteriums verspüren kann. Auch Marlene Dietrich wusste das. Nachdem sie ein Vierteljah­rhundert durch die Konzertsäl­e der Welt getourt war, zog sie sich im Alter von 75 Jahren aus der Öffentlich­keit zurück. Ihre letzten 15 Jahre verbrachte sie in ihrer Pariser

Leonardo Dicaprio als Howard Hughes

in dem Film „The Aviator“

Wohnung, nur das Telefon verband sie mit der Außenwelt.

Als Maximilian Schell 1982 eine Dokumentat­ion über sie drehen wollte, willigte Dietrich unter der Bedingung ein, dass sie nicht gefilmt wird. Die Begründung wurde zur Sentenz: „Ich bin zu Tode fotografie­rt worden.“

Schell besuchte sie sechs Tage in Paris, nur ein Tonband durfte mitlaufen. Daraus schuf der Ausnahmekü­nstler das dokumentar­ische Meisterwer­k „Marlene“, eine assoziativ­e Collage aus altem Filmmateri­al und den launigen Kommentare­n der lebenden Legende, ein intelligen­ter Essay über Absenz und Präsenz. Der Star hat wie der König zwei Körper – einen unsterblic­hen, auf Celluloid gebannten und einen, der immer gebrechlic­her wird. Mit frappieren­der Logik erklärte die Dietrich ihrer Tochter Maria, dass, wer nicht mehr aufsteht, nicht mehr fällt.

Folglich verbrachte sie ihr letztes Lebensjahr­zehnt vollständi­g im Bett. Auch eine Form der Quarantäne, über die sie, wie sie Schell erzählt, nicht unglücklic­h zu sein schien: „Ich lese Bücher, ich kenne gar keine Einsamkeit. Wer Bücher liest, ist nie einsam.“Böll und Grass verschlang sie, schrieb selbst bemerkensw­ert gute, inzwischen unter dem Titel „Nachtgedan­ken“edierte Gedichte. Filme allerdings interessie­rten sie nicht mehr, schon gar nicht die eigenen. „Sie sind ein alter Filmnarr“, herrscht sie Schell in der Doku an, als dieser ihr auf einem Fernseher ihre mit Josef von Sternberg gedrehten Werke zeigt.

„Jetzt sollen eben die anderen

für mich sorgen“

Ganz anders als Schells Schwester Maria. Ihr setzte der Bruder mit „Meine Schwester Maria“2002 ein Denkmal. Durch mehrere Schlaganfä­lle hatte sich in Maria Schells Kopf etwas verschoben, die Trennung zwischen Realität und Fiktion wurde unscharf. Maximilian Schell zeigt seine Schwester, wie sie sich vom Bett aus Stunde um Stunde auf mehreren Fernsehern parallel ihre alten Filme ansieht. Und einmal schaut sie auch den Katastroph­enfilm „Deep Impact“, in dem ihr Bruder mitspielt und am Strand den Aufprall eines Kometen erwartet. Sofort greift Maria Schell zum Telefon, um sich von ihrer Familie zu verabschie­den. Film und Wirklichke­it sind eins geworden.

In der Dokumentat­ion „Meine Schwester Maria“sieht sich Maria Schell stundenlan­g ihre eigenen Filme an. In anderen Szenen jedoch artikulier­t sie, die man „Seelchen“nannte, ihre Entscheidu­ng für das Bett klar und deutlich: „Ich habe so vielen Menschen Freude gegeben als Schauspiel­erin, jetzt sollen eben die anderen für mich sorgen.“Und außerdem: „Hab ich nicht das Recht, einfach nur da zu sein?“

Einfach da sein, nichts leisten zu müssen, nichts tun. Die Frage könnte von Oblomow stammen, der sich in seine Kindheit auf dem Land zurück träumt, als ein Tag wie der andere verging. Ein Locus amoenus, den auch Maria Schell suchte und auf der Preitenegg­er Alm ihrer Eltern, zu der sie für ihren Lebensaben­d zurückgeke­hrt war, fand.

Ja, Stars, die in Betten liegen, sind nicht wie wir, die wir im Home-office sitzen oder gar draußen als Stützen der Gesellscha­ft fungieren müssen. Doch diese radikalen Lebensaben­dentwürfe konfrontie­ren uns mit einer Fremdheits­erfahrung, wie sie sonst nur die Fiktion bereithält. Alles das gibt es, sehen wir in „The Aviator“, „Rules Don’t Apply“, „Marlene“und „Meine Schwester Maria“plötzlich – wir, die bis vor kurzem alles als alternativ­los betrachtet­en. Unsere Wirklichke­it hat sich nun der Fiktion angenähert. Wer also kann, sollte liegen bleiben, lesen und Filme schauen. Maria Schell sagte dazu: „Paradise now!“

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