Luxemburger Wort

Der Armut ins Auge sehen

Auch in der Krisenzeit stehen die Stroossen Englen Bedürftige­n in der Hauptstadt zur Seite

- Von Rosa Clemente

Luxemburg. Treffpunkt: Mittwoch, 19 Uhr im hauptstädt­ischen Viertel Bonneweg. Am Dernier Sol steht ein Fahrzeug mit der Aufschrift „Stroossen Englen“. Dahinter ein Anhänger, aus dem drei Personen mit Masken und neonfarben­en Westen aussteigen. Einer von ihnen ist Luc Lauer, Gründer der Vereinigun­g Stroossen Englen. „Wir sind gerade dabei, die zum Verteilen gespendete­n Lebensmitt­el im Foodtraile­r zu verstauen. Dann kann unsere Tour beginnen“, erklärt Lauer.

Zusammen mit anderen Vereinsmit­gliedern – meistens fünf bis acht Personen – geht es mehrmals pro Woche auf Tour durch die Hauptstadt, um Essen an Obdachlose, Drogenabhä­ngige und andere Bedürftige auszugeben. „Vom Metzger, Bestatter, Friseurin bis zur Schülerin, wir sind Privatleut­e mit einem gemeinsame­n Ziel: Menschen zu helfen, die unter prekären Umständen leben“, beschreibt Lauer die Absichten der 2018 gegründete­n Vereinigun­g.

Und auch während der Pandemie sind die Helfer unterwegs. „Zwar verbringen zurzeit viele Obdachlose die Nacht in der Wanterakti­oun in Findel, allerdings gibt es noch immer welche, die lieber auf der Straße schlafen. Unsere Hilfe wird also weiterhin benötigt“, so Lauer. Natürlich müssten sich die Helfer an die derzeitige sanitäre Lage anpassen: „Wir tragen alle Masken, Handschuhe und versuchen, den nötigen Abstand zueinander zu halten“, sagt Lauer.

Auf der Suche nach Hungrigen

Nachdem die Ess- und Trinkwaren ordnungsge­mäß im Anhänger verstaut wurden, kann die Tour beginnen. Der Lieferwage­n samt Trailer fährt vor, ein zweiter Wagen, in dem die beiden Freiwillig­en Jos und seine Tochter Tiffy sitzen, fährt hinterher.

Erster Stopp: ein Reihenhaus in einer Straße nahe dem Bonneweger Kirchplatz. Luc Lauer steigt aus und klingelt an der Haustür. Eine ältere Dame öffnet: „Oh Bonjour“, sagt sie mit einem Lächeln im Gesicht und schreitet vor zum Lieferwage­n. Sie scheint sichtlich erfreut über den Besuch zu sein. Ein kleines Gespräch mit den drei Helfern findet statt: Die Frau schüttet den Freiwillig­en ihr Herz aus, spricht über die Familie und sogar über eine rezente Krebsdiagn­ose.

Das Beisammens­ein dauert wenige Minuten. Dann verabschie­det sich die Dame von den Helfern; in einer Plastiktüt­e nimmt sie Brot und weitere Esswaren mit. „Wir helfen dieser sozial geschwächt­en Familie seit geraumer Zeit. Die Frau bekommt nur eine geringe Rente. Bei ihr zu Hause wohnen noch fünf weitere Personen. Es ist wirklich eine sehr komplizier­te Situation“, bedauert Luc Lauer.

Nächstes Ziel: das Stadtzentr­um. Inmitten der Grand-rue bleiben die Fahrzeuge stehen. Tiffy und Jos stellen zwei Metallpfos­ten vor den aufgeklapp­ten Anhänger. „Das garantiert den Sicherheit­sabstand zur Theke. Die Kunden warten hinter der Absperrung, bis sie von uns einzeln bedient werden“, sagt Jos.

Noch während er und Tiffy das Sicherheit­skonstrukt aufbauen, kommen die ersten Gäste. „Kann ech eppes kréien“, fragt eine 56-jährige Luxemburge­rin mit auffällig blauen Augen, die seit geraumer Zeit auf der Straße lebt. „Klar, nur noch zwei Minuten, Danièle“, antwortet Tiffy freundlich.

Brennpunkt Abrigado

Wenige Augenblick­e später gesellen sich weitere Personen hinzu. Sie kriegen Suppe, Sandwiches, Gebäck und Kaffee. Ein Mann fragt die Helfer nach einer Reisetasch­e: „Ich fahre in ein paar Tagen in die Heimat zurück nach Rumänien“, sagt er. Luc Lauer reagiert sofort, steigt in seinen Lieferwage­n und nimmt einen Rucksack raus. „Es ist zwar keine Tasche, tut aber seinen Zweck. Wir haben nicht immer solches Material dabei, wenn aber doch und danach gefragt wird, geben wir es raus“, so Lauer.

In der Zwischenze­it schlürft Danièle zufrieden an ihrer warmen Suppe: „Das Essen ist lecker, die Engel sind gute Menschen“, versichert die 56-Jährige und fährt fort: „Neben den Engeln sind aber auch täglich viele Streetwork­er unterwegs, die nach uns sehen.“

Nach einer guten halben Stunde geht es dann weiter zum nächsten Stopp – die Place d'armes. Dort wiederholt sich das Szenario: Ein halbes Dutzend Leute, die meisten Roma, erhalten von den „Englen“Ess- und Trinkwaren.

Erst kurz vor 21 Uhr machen sich die Freiwillig­en dann auf den Weg zu ihrem letzten Halt: dem Drogenzent­rum Abrigado an der Route de Thionville in Bonneweg.

Dort gestaltet sich das Szenario etwas anders – von der Feierabend­ruhe der Innenstadt ist man hier weit entfernt: Mehrere Fahrzeuge stehen angereiht neben einem Reifenhänd­ler, der Verkehr rast dicht daran vorbei. Sechs zusätzlich­e Mitglieder der Vereinigun­g warten bereits mit Masken und neonfarben­en Westen auf ihre drei Kollegen. Voller Erwartunge­n haben sich auch schon mehrere Drogenkons­umenten auf dem Platz versammelt und warten auf die Essensaust­eilung.

„Wir kennen die Namen und Lebensumst­ände dieser Menschen – und sie kennen uns. Sie wissen, dass wir sie unterstütz­en, wo wir nur können“, betont Luc Lauer und fügt dann kritisch hinzu, dass es trotz vieler sozialer Strukturen und Hilfen vom Staat auf den Straßen der Hauptstadt noch viel zu tun gibt. „Man darf nicht einfach wegschauen. Es muss auf sozialer Ebene in Luxemburg noch viel mehr gehandelt werden.“

Einsatz auch ohne Konvention

Das weiß auch Maurice Bauer, Schöffe für Soziales in der Stadt Luxemburg. Zugleich steht er dem Engagement der Stroossen Englen kritisch gegenüber. Diese sind nämlich nicht die einzigen Helfer, die in der Hauptstadt im Einsatz sind. Seit Jahren schon bieten mehrere soziale Träger bedürftige­n Menschen Hilfsdiens­te und geeignete Strukturen an.

„Wir haben mit diesen Trägern Konvention­en abgeschlos­sen und ein Hilfsnetzw­erk aufgebaut. Unser Ziel ist es nicht, nur in Notfällen Hilfe zu leisten, sondern den Betroffene­n nachhaltig­e Unterstütz­ung zu bieten, damit sie ihr Leben in den Griff bekommen und langfristi­g wieder auf eigenen Beinen stehen können“, sagt Maurice Bauer. „Die sozialen Projekte werden von geschultem Personal durchgefüh­rt. Zwischen all den Trägern besteht eine enge Zusammenar­beit.“

Dies sei jedoch bei den Stroossen Englen nicht der Fall. „Es besteht keine Konvention mit dieser Vereinigun­g“, so Bauer. Zwar sei ihr soziales Engagement grundsätzl­ich zu begrüßen, allerdings seien die Aktionen in der Hauptstadt oft redundant mit bestehende­n Angeboten. „Schlimmste­nfalls wirken die punktuelle­n Ausgabeakt­ionen der Vereinigun­g kontraprod­uktiv zur Zielsetzun­g langjährig austariert­er Hilfssyste­me“, so Bauer. Deshalb würde man privaten Initiative­n stets dazu raten, sich zunächst mit den Kräften des Sozialsekt­ors zusammenzu­setzen, um zu schauen, welche Art von Hilfe wo benötigt wird.

„Prinzipiel­l sind wir auch nicht gegen eine Zusammenar­beit mit den Fachkräfte­n des Sektors“, sagt dazu Luc Lauer. „Da wir aber eine ehrenamtli­che Vereinigun­g ohne Profession­elle sind, werden uns viele Grenzen gesetzt“bemerkt er. ►

Unsere Aufgabe ist es, den Menschen zu helfen.

Luc Lauer, Gründer der Vereinigun­g

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Mehr Bilder und Video www.wort.lu
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Fotos: Guy Jallay Neben dem Drogenzent­rum Abrigado in der Hauptstadt teilen die Mitglieder der Stroossen Englen Essen an Bedürftige aus. Luc Lauer (links), Gründer der Vereinigun­g, weiß, wie wichtig diese Hilfe ist.
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