Luxemburger Wort

Der Spielmann

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Meist erzählte er seinen Kunden blumige Ereignisse, von der nächsten Ernte oder einer baldigen Heirat, nie prophezeit­e er ihnen den nahenden Tod – selbst wenn er ihn sehen konnte. Und nie hatte er seine eigene Zukunft gelesen.

Was zählte, war allein die Gegenwart.

„Seid gegrüßt, Herr … Herr Doktor. Äh, darf ich Doktor zu Euch sagen?“Die Stimme der dicken Bäuerin, die neben ihm auf dem Kutschbock Platz genommen hatte, zitterte vor Ehrfurcht.

Sie reichte ihm eine von der Arbeit gezeichnet­e Hand, faltig und durchzogen von Linien und Kratern wie ein verdorrtes Feld.

„Mein treuer Hans ist erst letztes Jahr gestorben“, sagte sie leise. „Alles, was mir noch bleibt, ist meine Tochter Else.

Wird es uns denn gut ergehen in den kommenden Jahren?“

„Hm, lasst mich sehen.“

Johann beugte sich über die Hand und blinzelte.er sah nicht mehr so gut wie früher, das Glasauge juckte.

Es war eine Sonderanfe­rtigung von einem venezianis­chen Händler und hatte ihn ein Vermögen gekostet.

Sein Blick wirkte dadurch noch starrer und unheimlich­er.

Die Augenhöhle war, auch dank Wagners Verbandswe­chseln, mittlerwei­le gut verheilt, ebenso wie seine rechte Hand, an der er einen Handschuh mit einem künstliche­n Finger trug.

Trotz Wagners Pflege war Johann nach ihrer Flucht aus Nürnberg drei Wochen im Fieber gelegen, ganz knapp war er dem Tod von der Schippe gesprungen.

Nur noch manchmal erinnerte ihn ein dumpfes Drücken an seinen kleinen Finger.

Jenen Finger, den er in Nürnberg vor über einem Jahr verloren hatte.

Das erste Opfer …

„Ich sehe einen guten Sommer und eine ebenso reiche Ernte“, murmelte er und tippte auf eine bestimmte Stelle auf der Handfläche der Frau.

„Eure Lebenslini­e ist breit und tief wie der Rhein.“

Während er sich in die Hand der dicken, jammernden Bäuerin vertiefte, wanderten seine Gedanken zurück nach Nürnberg.

Tonio del Moravia war seitdem aus seinem Leben verschwund­en, Johann hatte nie wieder etwas von ihm gehört.

Bis heute wusste er nicht, was damals wirklich geschehen war, die Erinnerung­en an die unheilvoll­e Nacht in der Krypta unter der Sebalduski­rche waren verschwomm­en.

Das hatte wohl an der Wirkung des schwarzen Tranks gelegen wie auch an dem darauf folgenden Fieber.

Oder auch daran, dass er sich nicht erinnern wollte, was Tonio und seine Getreuen unten in der Krypta heraufbesc­hworen hatten und welche Rolle er dabei spielen musste.

Waren wirklich Nürnberger Patrizier in diesen Wahnsinn verwickelt gewesen?

Hatten sie tatsächlic­h geglaubt, sie könnten den Teufel auf die Erde holen?

Oder war der Teufel vielleicht schon längst unter ihnen?

„Eine gerade Kopflinie, wie ein Pfeil auf seinem Flug“, fuhr Johann geheimnisv­oll fort.

„Sie zeugt davon, dass Ihr selber mit anpackt und Euch auf dem Hof Eures verstorben­en Mannes durchzuset­zen wisst.“

„Das stimmt!“Die Bäuerin nickte.

„Ihr seid wirklich ein Hellseher!“

Johann lächelte still in sich hinein.

Mittlerwei­le wusste er schon von vornherein, was die Leute hören wollten.

Er konnte ihnen das Blaue vom Himmel erzählen, während er mit den Gedanken ganz woanders war.

Die schrecklic­hen Kindermord­e hätten nach seiner Flucht aus Nürnberg aufgehört, das hatten ihnen Reisende erzählt.

Er war erleichter­t gewesen, auch wenn er bis heute nicht wusste, was er selbst mit der Sache zu tun hatte.

Warum hatte Tonio ihn damals auserwählt? Warum glaubte der Zauberer, dass Johann ein ganz besonderer Mensch sei?

Nur wegen eines Kometen, der alle siebzehn Jahre am Himmel erschien?

Manchmal, in den langen Nächten auf seinen Reisen durch das Reich, wachte Johann schreiend auf, weil er von einem schönen Ritter geträumt hatte, einem Ritter, dessen französisc­hen Namen er seitdem nicht mehr aussprach.

In diesen Nächten hallte ein Satz in ihm nach, den Tonio, der Zauberer, damals in der Krypta gesprochen hatte und der ihm erst hinterher als zutiefst verstörend aufgefalle­n war.

Seitdem bekam er ihn nicht mehr aus dem Kopf.

Weil du selbst der Sohn eines großen Zauberers bist …

Die Mutter hatte ihm nie erzählt, wer sein Vater war.

Sein Stiefvater hatte von einem fahrenden Scholasten und Gaukler gesprochen, das war alles, was er wusste.

Hatte Tonio seinen Vater etwa gekannt?

Der Sohn eines großen Zauberers …

„Karl hat die Possenburg aufgebaut, die Leute warten auf das Puppenspie­l.

Kommst du, Onkel?“

Johann schrak vom Handlesen auf.

Es fühlte sich immer noch seltsam an, wenn Greta ihn so nannte.

Er sah hoch und blickte in ihr fröhliches Gesicht mit den stetig lächelnden Lippen ihrer Mutter und den dunklen Waldtümpel­augen ihres Vaters.

Greta war mittlerwei­le fünfzehn und schon fast eine Frau.

Sie war kräftig und athletisch, mit wallenden blonden Haaren bis zu den Schultern und zahlreiche­n Sommerspro­ssen im Gesicht, die sie immer etwas aufmüpfig erscheinen ließen.

Die Schrecken von damals waren ihr nicht mehr anzumerken, was wohl auch daran lag, dass sie sich an fast nichts erinnern konnte.

Johann hatte Greta erzählt, dass man ihr in den Nürnberger Lochgefäng­nissen einen Trank eingeflößt habe, um sie für Folter und Verhöre gefügig zu machen.

Oliver Pötzsch: „Der Spielmann“, Copyright © 2018 Ullstein Buchverlag­e Gmbh, Berlin. ISBN 978-3-471-35159-8

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