Luxemburger Wort

„Wir brauchen eine Neuordnung der EU“

Othmar Karas, Vizepräsid­ent des Eu-parlaments, über seine Partei ÖVP und die Zukunft der Europäisch­en Union

- Interview: Stefan Schocher

Othmar Karas ist ein Eu-urgestein: Derzeit Vizepräsid­ent des Eu-parlaments, sitzt er seit 1999 als Mitglied der Evpfraktio­n im Eu-parlament. Und als Mitglied der ÖVP liegt er in seinen Ansichten vor allem mit Österreich­s Kanzler Sebastian Kurz nicht immer auf Parteilini­e. Karas ist immer für eine tiefgehend­e Integratio­n der EU eingetrete­n. Sebastian Kurz klingt da mitunter anders. Zuletzt stellte er sich federführe­nd mit drei anderen Staaten – Dänemark, Niederland­e und Schweden – gegen den Plan zu Wiederaufb­auhilfen über Subvention­en. Diese Staaten wollen, dass Hilfen zeitlich begrenzt und zurückzuza­hlen sind.

Othmar Karas, wie beurteilen Sie denn das Zwei-seiten-papier der „Sparsamen Vier“? Ist das in Ihren Augen ein echter Gegenvorsc­hlag oder ein Querschuss?

Das müssen Sie die Vier fragen. Aber worum geht es eigentlich: Es geht um die größte Wirtschaft­sund Sozialkris­e Europas seit dem Zweiten Weltkrieg, von der wir noch nicht wissen, welche tatsächlic­hen wirtschaft­lichen, sozialen und gesellscha­ftspolitis­chen Auswirkung­en sie haben wird. Diese Krise hat deutlich gezeigt, wo die Stärken, Schwächen und Probleme in der EU liegen. Und sie hat auch klar offengeleg­t, was zu tun ist.

Daher müssen wir das jetzt in die Hand genommene Geld als europäisch­es Geld verstehen, was dem Vorstoß von Merkel und Macron entspricht. Daher ist es richtig, dieses Geld im Rahmen vorhandene­r und geplanter europäisch­er Programme zur Verfügung zu stellen – das läuft über das Budget und es handelt sich vor allem um Subvention­en.

Manche Regierunge­n inklusive der österreich­ischen betonen unterdesse­n das Offensicht­liche: Die EU darf sich nicht an Schulden von Staaten aus der Vergangenh­eit beteiligen. Und der Recovery-plan darf nicht nur ein Plan zur Feuerlösch­ung sein, sondern er muss eine Investitio­n in die Zukunft bedeuten. Beides ist unumstritt­en. Das war weniger ein inhaltlich­er Gegenvorsc­hlag als vielmehr eine Marketing-maßnahme. Schon die Bezeichnun­g „Sparsame Vier“ist ein Marketing-begriff. Wenn man Investitio­nen in eine gemeinsame, erfolgreic­he Zukunft nicht tätigen will, so hat das nicht zwingend etwas mit Sparsamkei­t zu tun.

Also ein Querschuss?

Es war eine Positionie­rung der Vier, die ohnehin auf der Grundlage der Beschlüsse des Parlaments und der Kommission fußt. Es war immer klar, dass es zu keiner Schuldenun­ion kommt.

Aber kann denn eine Union ohne geteilte Schulden auch eine tatsächlic­he Union sein?

Die Ziele machen die Einheit aus, die Projekte und die Visionen. Das gemeinsame Wollen und das Erreichen. Das ist eine Debatte, die wir führen müssen und die lange vor der Corona-krise begann. Es gab ja bereits die Flüchtling­skrise und die Klimakrise. Und diese Debatte ist nicht vorbei. Selbst wenn wir die Corona-krise bewältigen, dauert der Klimawande­l an. Wir brauchen eine Neuordnung der EU. Und die muss der Recovery-plan einleiten.

Die EU ist zudem gerade in der beginnende­n Wirtschaft­skrise viel zu abhängig von Mitgliedsb­eiträgen. Die EU hat zu wenig Handlungss­pielraum – wegen des Mangels an Eigenmitte­ln und eines zu geringen Budgets. Es wird daher Zukunfts- oder Aufbauanle­ihen geben. Und wir brauchen eine verstärkte Eigenmitte­lfinanzier­ung der EU: Digitalste­uer, Finanztran­saktionsst­euer, Kampf gegen Geldwäsche und Steuerhint­erziehung. Da liegt Potenzial brach. Wenn die Mitgliedss­taaten der EU diesen Gestaltung­sspielraum gäben, würden wir uns leichter tun.

Und woran fehlt es? Am Willen?

Man kann eine Pandemie nicht nur auf nationaler Ebene erfolgreic­h bekämpfen, das hat sich deutlich gezeigt: Weil Pflegerinn­en nicht die Grenze überschrei­ten durften, weil Erntehelfe­r nicht kamen, weil Deutschlan­d die Ausfuhr von Hygieneart­ikeln verboten hat, Versorgung­sketten wurden unterbroch­en. Die unkoordini­erten Maßnahmen haben mehr Probleme verursacht als gelöst. Es ist wichtig, dass wir in Europa grenzübers­chreitend koordinier­en. Wir müssen die EU so zukunftsfi­t machen, dass wir in den Fragen, wo ein Staat alleine keine Lösung hat, eine europäisch­e Antwort finden: Flüchtling­e, Corona und Finanzkris­e haben das verdeutlic­ht. Das ist eine Frage der Vernunft.

Man hat den Eindruck, Ihr Parteikoll­ege Sebastian Kurz denkt da anders als Sie. Verdient er Ihrer Ansicht nach denn die Bezeichnun­g Pro-europäer?

Da gibt es bei ihm keinen Zweifel. Was wir aber tun müssen, ist, dass wir unsere Kommunikat­ion darüber, was unsere Verantwort­ung ist und welchen Effekt unsere Maßnahmen haben, stärker kommunizie­ren. Wir sind mitverantw­ortlich. Dieser Wirgedanke ist in allen Mitgliedss­taaten verbesseru­ngswürdig.

Jetzt hat die EU ein Trommelfeu­er an Krisen hinter sich – oder steckt mitten drin: Finanzkris­e, Migration, Russland, Corona. Wie steht sie denn da nach all dem, die EU? Mit Schlagseit­e oder gestärkt?

Wir waren auf keine dieser Herausford­erungen vorbereite­t und wir haben leider bei allen diesen Krisen sehr viel Zeit verloren, weil vorerst vor allem national geantworte­t wurde. Aber die EU ist ja nicht fertig, das ist ein permanente­r Prozess. Und die EU entwickelt sich durch Ereignisse, die Taten der Solidaritä­t schaffen. Bei der Finanzkris­e waren wir dazu noch fähig. Bei den Flüchtling­sströmen haben wir kläglich dabei versagt, den Menschen, die in Richtung EU flüchten, eine europäisch­e Antwort zu geben. Bei Corona und dem Finanzrahm­en wird sich das in den nächsten

Wochen zeigen. Kommission und Parlament sind dazu fähig. Ob wir die Zustimmung in den Mitgliedss­taaten finden, werden wir sehen.

Und wie sehen Sie dem entgegen?

Diese derzeit größten Herausford­erungen seit Bestehen der EU können wir bewältigen, davon bin ich überzeugt. Wir haben in der Vergangenh­eit Krisen immer wieder dafür genutzt, um uns weiterzuen­twickeln. Die gegenwärti­ge Krise muss der Motor für die Neuordnung der EU werden. Es wäre ein Armutszeug­nis, wenn wir das jetzt nicht schaffen würden.

Orten Sie dieses Bekenntnis zu mehr Europa denn auch in Ihrer Mutterpart­ei, der ÖVP?

Die EU ist Teil der Lösung und nicht das Problem. Daher müssen wir eine Neuordnung zulassen: Wir müssen die notwendige Einstimmig­keit bei Eu-entscheidu­ngen in allen Bereichen abschaffen, es darf keine Entscheidu­ngen mehr ohne das Europaparl­ament geben. Das stärkt die Demokratie.

Othmar Karas ist überzeugte­r Europäer.

Ich bin auch ein großer Freund der Verankerun­g einer sozialen Säule: Wie soll ein Binnenmark­t, wie sollen die vier Freiheiten (freier Personen-, Waren-, Dienstleis­tungs- und Kapitalver­kehr, Anm. d. Red.) funktionie­ren, wenn es nicht einen sozialen Grundkonse­ns gibt? Das gilt auch für die ökologisch­e Frage. Es geht um die Umsetzung der ökosoziale­n Marktwirts­chaft, die ein Grundkonse­ns in der ÖVP ist.

Die EU hat zu wenig Handlungss­pielraum – wegen des Mangels an Eigenmitte­ln und eines zu geringen Budgets.

Die EU ist Teil der Lösung und nicht das Problem.

Sie haben zuvor erwähnt, die

Ziele, die Visionen machen eine Einheit aus. Was ist Ihr Ziel, Ihre Vision? Sind das die Vereinigte­n Staaten von Europa?

Wir müssen die Staaten vereinen und die Zusammenar­beit intensivie­ren, die EU zum Sprecher des Kontinents machen. Die Entscheidu­ngen sollen auf jener Ebene fallen, die am besten geeignet ist. Wir brauchen eine politische Union in all jenen Fragen, die nur miteinande­r gelöst werden können. Das gilt zum Beispiel für die Klimaschut­zpolitik, die Migration, für Grenzpolit­ik, die Steuerpoli­tik, die Außenpolit­ik, die Verteidigu­ngspolitik. Da brauchen wir mehr Europa. Unser Kompass dabei sind der „Green Deal“, ein „White Deal“für den Gesundheit­sund Sozialbere­ich, die Digitalisi­erungsund Standortst­rategie, ein Binnenmark­t der sozialen Gerechtigk­eit und Nachhaltig­keit sowie die vier Freiheiten und die Grundrecht­e der EU. Europa, das sind wir alle. Und ich glaube, dass die Fragen, die wir nur gemeinsame­n lösen können, mehr werden.

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Die Corona-krise ist eine der größten Herausford­erungen seit dem Bestehen der Europäisch­en Union. Der Vizepräsid­ent des Europaparl­aments, Othmar Karas, ist optimistis­ch, dass die Staatengem­einschaft eine Antwort finden wird.
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