Gratis besser durch die Krise
Europaweit brechen dem öffentlichen Nahverkehr die Einnahmen weg – Luxemburg hat Glück im Unglück
Was für ein Timing: Nur 16 Tage, nachdem Luxemburg am 1. März den Gratis-nahverkehr eingeführt hat, kommt der Lockdown. Dabei sollte es doch das Jahr für den öffentlichen Transport werden. Aber von einem Tag auf den anderen sind Busse und Züge so leer wie nie zuvor. Ein riesiger Flop für die in den Medien gefeierte Weltpremiere – das zumindest könnte man meinen. Doch Luxemburg hat Glück im Unglück: Denn die Nachfrage nach dem öffentlichen Personennahverkehr (ÖPNV) ist in ganz Europa zusammengebrochen. Während das Geld aus dem Ticketverkauf in anderen Ländern Löcher in die Kassen reißt, ist Luxemburg das Land, das offiziell vom Ticketverkauf unabhängig ist. Die meisten Ticketautomaten sind längst abmontiert. Die Kosten: 41 Millionen Euro pro Jahr, finanziert aus Steuermitteln.
Nahverkehr als Gefahrenzone
Fest steht, die Einführung des Gratis-nahverkehrs war anders geplant. Denn nach der Devise „Bleift doheem“blieben in der Coronakrise auch die Fahrgäste weg. Wer weiterhin zur Arbeit fahren muss, nimmt die öffentlichen Verkehrsmittel nur dann, wenn es unbedingt sein muss. Mit der Pandemie wird der öffentliche Raum zur Gefahrenzone und somit auch der öffentliche Nahverkehr. Dabei sollte die Zahl der Fahrgäste steigen. Vor allem sollten die Autofahrer umsteigen: vom Individualverkehr auf den ÖPNV. Zunächst sieht es so aus, als würde die Mobilitätswende auch gelingen. Vor dem 1. März befördert die Tram 31 000 Fahrgäste pro Tag. Nach dem Stichtag steigt die Zahl schnell auf 34 000. Das ist der erwünschte Trend. Der Lockdown setzt ihm am 16. März ein Ende.
Im April zählt Luxtram nur noch 2 000 Fahrgäste pro Tag. Auch im Süden des Landes meiden die Menschen den ÖPNV. Auf der Linie 1 zwischen Esch und Differdingen sitzen Anfang März durchschnittlich 35 Fahrgäste in einem Bus. Nach dem Lockdown sind es noch acht. Die Entwicklung in Luxemburg ist exemplarisch. In manchen europäischen Städten sind die Fahrgastzahlen um bis zu 95 Prozent zurückgegangen, wie das Mobility Institute Berlin (MIB) zeigt. Das Problem: Mit der Corona-krise ist die Nachfrage bei Bus und Bahn weggebrochen. Laut dem Verband Deutscher Verkehrsunternehmen (VDV) haben diese im März und April monatlich bis zu einer Milliarde Euro an Fahrgeldeinnahmen verloren. Das Angebot aber muss aufrechterhalten bleiben. Und zwar mit vielen Fahrzeugen, um den Sicherheitsabstand
zu gewährleisten. Wirtschaftlich ist das nicht tragbar. Im Nachbarland wird daher diskutiert, wer für den ÖPNV zahlt. In Luxemburg ist die Antwort eindeutig: der Staat.
Es kann nicht sein, dass sich Krankenschwestern ein Taxi nehmen müssen.
Steve Arendt
Luxemburg als Vorreiter
„Andere Länder verstehen jetzt, dass der öffentliche Transport eine öffentliche Dienstleistung sein muss und dass sie massiv investieren müssen“, sagt Mobilitätsminister François Bausch (Déi Gréng) gegenüber dem Luxemburger Wort. Hierzulande stehen nicht nur die Investitionen, es besteht auch Klarheit über die Stoßrichtung. Das Gesetz von Angebot und Nachfrage gilt nicht mehr. „Wir fahren heute wie früher, wohl wissend, dass weniger Fahrgäste mitfahren“, sagt Tice-direktor Steve Arendt. Schon während des Lockdowns setzt das Bussyndikat größere Busse für weniger Fahrgäste ein. Die Passagiere sollen sich besser verteilen. „Dafür gab es auch Kritik“, sagt Arendt. „Aber es kann doch nicht sein, dass Krankenschwestern, Putzfrauen oder Kassiererinnen zwölf Stunden arbeiten und sich dann auch noch ein Taxi nehmen müssen“. So wurde es auch gleich zu Beginn vom Ministerium kommuniziert: Gesundheit und Sicherheit haben im öffentlichen Transport Vorrang. Also passen die Mitarbeiter bei TICE, Luxtram oder CFL den Betrieb an die Krise an. „Das war bei uns nicht anders als in Supermärkten oder im Krankenhaus“, sagt Arendt.
„Oft besteht die Meinung, dass der Nahverkehr nach privatrechtlichen Rentabilitätskriterien funktionieren soll. Wir sehen ihn als Dienstleistung, die wir dem Bürger anbieten, damit die Gesellschaft funktioniert. Das bedeutet, wir betrachten den makroökonomischen Mehrwert und nicht den betriebswirtschaftlichen“, heißt es aus dem Ministerium. Auch bei CFL und Luxtram fährt man das Angebot daher stetig hoch. In den Türen der Tram stecken Sensoren, die das Fahrgastaufkommen messen. Steigt die Zahl, steigt der Takt, in dem die Bahnen fahren.
In der Pandemie ist der Gratisnahverkehr zwar ganz anders angelaufen als gedacht. Dennoch ist er ein Erfolg, von dem auch die lokale Wirtschaft profitiert. Der Staat arbeitet etwa mit dem Busunternehmen Sales-lentz zusammen. Während dessen Reisesparte
Wir sehen den Nahverkehr als Dienstleistung. François Bausch
hart von der Corona-krise getroffen wurde, sichert der Rgtr-vertrag die Einnahmen aus dem öffentlichen Personennahverkehr. Dieser wird als „activité existentielle“angesehen. Das Unternehmen muss den Transport gewährleisten. Der Staat zahlt, was vereinbart war. „Das war in der gesamten Krise ein wichtiges Einkommen“, sagt Gesellschafter Marc Sales.
Die Unabhängigkeit von Tickets bringt sogar bei der Eindämmung
der Pandemie Vorteile. Zum einen fällt der Fahrkartenautomat als Infektionsherd weg. Zum anderen müssen die Fahrer keine Tickets kontrollieren, werden so selbst besser geschützt und nicht so leicht zu sogenannten Superspreadern. Diese gesundheitliche Sicherheit wird über die künftige Passagierzahl mitentscheiden. Daher wird auch für die Reinigung der Fahrzeuge „viel Geld in die Hand genommen“, wie die CFL betont. Gleichzeitig bleibt ein Problem: CFL, TICE und Luxtram räumen ein, den Sicherheitsabstand in ihren Fahrzeugen nicht garantieren zu können. Schutzmasken sollen das ausgleichen.
Die Spätfolgen der Pandemie
Wegen der bleibenden Infektionsgefahr gehen Experten davon aus, dass die Corona-krise längerfristige Konsequenzen für den ÖPNV haben wird. Die Nachfrage steigt zwar wieder, könnte in den kommenden Monaten aber unterhalb des Vorkrisenniveaus bleiben. Das Auto könnte zum Krisengewinner werden. Das wäre der Albtraum für Luxemburgs Mobilitätswende. Schon Mitte Mai zeigt sich: Der Stau kehrt langsam ins Straßenbild zurück. Die Macher der Wende bleiben optimistisch. Der ÖPNV ist mehr als Transport, sagt André von der Marck, Generaldirektor von Luxtram. Er verändere, wie sich Menschen in der Stadt bewegen. Das bleibe in der Coronakrise entscheidend. Bus und Tram bringen der Innenstadt die Besucher, die Cafés, Restaurants und Einzelhandel in der Wirtschaftskrise nach der Gesundheitskrise so dringend brauchen.