Das multimediale Wunder Echternachs
Die Springprozession im Lichte französischer und deutscher Medien zwischen 1900 und 1940
Wenn wegen der Corona-krise die Echternacher Springprozession in diesem Jahr nur digital zu erleben sein wird, so haben die „heiligen Springer“die Medien stets fasziniert – und dies weit über Luxemburgs Grenzen hinaus. Schon sehr früh im 20. Jahrhundert wird vor allem in Frankreich multimedial über die besondere Willibrordverehrung berichtet. In den Pionierjahren laufen Filmreporter den Springern durch Echternachs Straßen hinterher und deutsche Tontechniker bringen den O-ton der Springprozession bis in die Wohnzimmer des europäischen Auslandes.
Sind es in jüngster Vergangenheit vor allem deutschsprachige Pilger, die zur Internationalisierung der Echternacher Springprozession beitragen, so stellen vor dem Ersten Weltkrieg Belgier und Franzosen das größte Kontingent der fremden Teilnehmer. Ist es den französischsprachigen Medien zu verdanken, dass so viele Pilger aus Frankreich und Belgien in das Sauerstädtchen kommen? Oder ist die rege Beteiligung aus diesen Nachbarländern der Grund dafür, dass Journalisten aus Paris und Brüssel auf einen Sprung nach Echternach reisen, um an der Seite ihrer Landsleute das Beten mit den Füßen mit eigenen Augen zu erleben? Oder haben etwa Redakteure wie Pilger die mahnenden Worte der 1895 vorwiegend in der französischen Presse erschienenen Artikel über ein mögliches Verschwinden der Springprozession aus der Liste der europäischen Wallfahrten wortwörtlich genommen?
Angesichts der Springerzahlen, die erstmals 1892 im Kontext der Teilnahme eines Bischofs in der Person von Mgr Jean-joseph Koppes – verbunden mit einem vollkommenen Ablass für die Teilnehmer durch Papst Leo XIII. – in den fünfstelligen Bereich steigen, scheint die Aussage des „Ménestrel“etwas voreilig: „… que la procession dansante tend à disparaître et qu’elle a été très peu nombreuse en l’an de grâce 1895. Ceux qui désirent voir ce curieux spectacle doivent donc se dépêcher; le vingtième siècle ne le verra peut-être plus, et cela serait dommage».1
Doch so wie die Springerzahlen am Anfang des 20. Jahrhunderts nicht weniger werden, so multiplizieren sich auch die Beiträge in den ausländischen Medien. Allein die digitalisierte Datenbank der Zeitungsbestände der „Bibliothèque Nationale de France“entpuppt sich als wahre Fundgrube diverser Presseberichte, die aus erster oder zweiter Quelle die Echternacher Springprozession mal mehr, mal weniger kritisch dokumentieren. Die teils illustrierten Artikel sind wichtige Zeitdokumente für die Rezeptionsgeschichte der „procession de toutes les cultures
Dank der ausländischen Berichterstatter erfährt der Leser Wissenswertes und Kurioses über das Profil der Pilger und Zuschauer, die Kleider(un)ordnung und die Prozessions(un)ordnung, die unterschiedlichen Springarten, die Prozessionsmelodie, die nicht immer gleich erklingt, und so manche unkatholischen Praktiken, wie das Springen gegen Geld, das bis in die Anfangsjahre des 20. Jahrhunderts trotz vehementer Kritik für manche Springer ein lukratives Geschäft zu sein scheint, werden angeprangert.
Stellvertretend für die viele Zeitungsberichte aus dem Hexagon sei der Bericht aus dem „Figaro“vom 1. Juni 1907 erwähnt, wo unter dem Titel „La Procession sautante d’echternach“ein detaillierter Bericht folgt, in dem es u. a. heißt: „Les jeunes gens sautent aussi haut qu’ils peuvent; les jeunes filles, unies par les mains, font mouvoir leurs tabliers et leurs robes dans une danse plus légère, et suivent le rythme par deux pas en avant et un pas oblique en recul; les vieux, bras dessus bras dessous, s’efforcent de soutenir la cadence de l’éternelle litanie: Bitte für uns, heiliger Willibrord! (…) Du commencement à la fin, les pèlerins ne cessent d’être sérieux et, pour mieux dire, inspirés. Jamais la cérémonie n’a dégénéré en bacchanale. Ils accomplissent un rite où les uns voient une oblation, d’autres le culte des traditions passées – dont nul ne connaît le sens – et il y a pourtant sur ces pauvres visages épuisés de fatigue, une sérénité qui impose le respect“3, so der Journalist und Jurist Edmond Cléray (1877-1938).
Cléray fungiert auch als Generalsekretär des „Petit Parisien“, wo er 1912 folgenden Text über die „saints dansants“veröffentlicht: „A vrai dire, le mot de danse est ici mal à sa place. Les pèlerins d’echternach ne dansent pas. Ils marchent en sautillant, faisant trois pas en avant et deux en arrière, et cela pendant des heures entières, sans jamais s’arrêter, sans sourire, sans se reposer, se contentant d’accepter le verre d’eau ou de vin qu’on leur tend au passage. Pour le peuple curieux, la première impression est presque comique, mais l’attitude de ces croyants, leur gravité, l’indifférence avec laquelle ils passent devant la foule accourue pour les contempler (…) arrête bientôt le rire sur les lèvres railleuses. Ils ne comprennent pas, ils ne voient pas qu’ils constituent un spectacle. Ils ne pensent qu’à leur voeu, au secours qu’ils attendent du saint et ils continuent leur danse imperturbablement, les petits enfants tenant la main de leurs parents, les vieillards et les infirmes soutenus par leurs voisins“.4
Wie ein roter Faden zieht sich die Bezeichnung „curieuse procession“durch die französischen Medienberichte: „Tous les 11 ans, une procession des plus curieuses a lieu le mardi de la Pentecôte à Echternach“5, schreibt fälschlicherweise das „Journal du Dimanche“.
Für den Pfingstdienstag, den 7. Juni 1938, organisiert die ein Jahr zuvor gegründete Frauenzeitschrift „Marie Claire“sogar eine Leserreise nach Echternach „où l’on assistera à la très curieuse procession dansante“.6 Anschließend Abfahrt mit dem Zug ab Bahnhof Luxemburg um 16.56 Uhr, Ankunft in Paris-est um 22.50 Uhr – mit Abendessen im Speisewagen.
Bereits am 19. Mai 1937 schafft es die Springprozession auf die Titelseite der Pariser Ausgabe
des „Le Petit Journal“, einer der gewichtigsten Tageszeitungen Frankreichs – mit der Überschrift „20.000 pèlerins dansent la polka des pénitents“und Foto. Über Telefon berichtet am Pfingstdienstag (18. Mai) aus Echternach ein „envoyé spécial“der 1863 gegründeten Zeitung, der u. a. bemerkt: „Il n’y avait qu’une houle de têtes, un extraordinaire mouvement de flux et de reflux qui secouait en mesure des petites filles du Luxembourg, des hommes aux mouchoirs blancs posés sur les cheveux, des vieilles femmes sorties vivantes des tableaux de Brueghel“.7
Dieser „envoyé spécial“ist kein Geringerer als der französische Schriftsteller und Radioreporter Paul Gilson (1904-1963), der ab 1937 für Radio Luxemburg die literarische Sendung „Banc d’essai“präsentiert. Schriftsteller wie Jean Cocteau liefern dem Pariser Medienmacher eigens Texte, die über die Wellen des größten Privatsenders Europas erstmals ausgestrahlt werden. Seit 1933 arbeitet Paul Gilson als „grand reporter“für die Tageszeitung „Le Petit Journal“. Der von seinen Kollegen als „grand Paul“bezeichnete Journalist gilt als Pionier multimedialer Berichterstattung, denn seine Reportagen erscheinen zeitgleich in gedruckter Form im „Le Petit Journal“, radiofonisch auf Radio Luxemburg und visuell im Kino.8 Es ist wohl anzunehmen, dass Paul Gilson an jenem Pfingstdienstag ebenfalls für Radio Luxemburg im Einsatz ist, denn ab 1933 berichtet der Sender live von der Echternacher Springprozession. Am Pfingstdienstag 1937 registriert man allerdings einen Einbruch der Pilgerzahlen: Es fehlen die deutschen Pilgermassen, denn bei den Grenzkontrollen sind die deutschen Zollbeamten anscheinend „unerträglich kleinlich“.9
„Les pèlerins d’echternach
ne dansent pas“
„Marie Claire“lädt zur Springprozession
Quantensprünge zur Springprozession
Bereits vor dem Ersten Weltkrieg wird nicht nur in gedruckter Form aus Echternach berichtet. 1902 und 1906 hält die Familie Marzen aus Trier die Springprozession kinematografisch fest. Im „Cinéma Pathé Frères“im südwestfranzösischen Bassin d’arcachon wird im November 1908 ein kinematografisches Porträt der Springprozession ausgestrahlt und als „fort jolie vue originale et comique de moeurs et coutumes actuelles“10 beworben. Seit den Pionierjahren der französischen Filmemacher Pathé fungiert die Echternacher Springprozession regelmäßig im Programm des sogenannten „Pathé-journal“. 1935 lobt die Presse die Aktualitätsaufnahmen aus Echternach: „Excellent numéro de Pathé sur la procession dansante d’echternach, très bien présenté, bien photographié, monté rapidement, pourvu d’un remarquable commentaire, très instructif: toutes nos félicitations, c’est autrement plus soigné que le même numéro chez Paramount, plat, ordinaire: preuve qu’il n’y a, au fond, pas de sujets maudits“.11
Bereits 1929 bringt Paramount Aufnahmen von der Echternacher Springprozession unter dem Titel „Mystischer Charleston“heraus: „Man erzählt, die Aufnahmen würden allgemein im Ausland interessieren. Im Interesse
unseres Tourismus wäre es zu wünschen. Und auch das Wort ,Charleston‘ macht gar nicht so schlecht, denn sonst könnte man noch glauben, Luxemburg sei wirklich rückständiger als es ist“, schreibt Evy Friedrich in der Luxemburger Kinozeitschrift „Hollywood“.12
Einige Jahre vor der Gründung von Radio Luxemburg überträgt die Südwestdeutsche Rundfunk AG mit Sitz in Frankfurt am Main die Pilgerfahrt zum Grab des heiligen Willibrord live aus Echternach. Mit dieser erstmaligen Direktübertragung der Springprozession wird ein Stück Radiogeschichte im Großherzogtum geschrieben. Das Luxemburger Wort spricht von „Echternachs großem Wunder“, die traditionellen Klänge der Prozession mit moderner Technik zu vernetzen : „Zum erstenmal wurde das akustische Bild der Echternacher Springprozession auf den Wellen des Rundfunks in die Welt hinausgesandt. Die Südwestdeutsche Rundfunkgesellschaft in Frankfurt war um die Genehmigung zu dieser Übertragung bei den kirchlichen und weltlichen Behörden eingekommen. Bereitwillig wurde die Erlaubnis erteilt und in durchaus diskreter Art, die den Verlauf der Prozession nicht im mindesten störte – nicht wie das unverzeihliche Auftauchen eines riesigen, mit Lichtreklame protzenden Filmautos mitten unter den Springern – ging die Übertragung vor sich. Die technische Seite besorgte Ingenieur Geißler vom Frankfurter Sender, ein in internationaler Reportage erfahrener Praktiker, der ebensogut ein Mikrophon im Krater des Vesuvs wie auf dem Dache der Peterskirche in Rom montiert. Er fand liebenswürdigste Unterstützung bei der Bauabteilung der luxemburgischen Post-verwaltung und Herr Inspektor Klein war mit einem Stab von Beamten und Arbeitern an Ort und Stelle anwesend. Die Übertragung geschah durch zwei Mikrophone. In der Mitte der Bergstraße, zwischen den Häusern Klüsserath und Zimmer, hing unauffällig der kleine Marmorblock, der das Geräusch der Straße aufnehmen sollte. Ein zweites Mikrophon war im 1. Stockwerk des Hauses Klüsserath für die Sprecher angebracht. Die luxemburgische Telefon-bauabteilung hatte diese Mikrophone mit dem Echternacher Postamt verbunden und für die Übertragung zwei Leitungen nach dem Sender in Frankfurt ab 10 Uhr bereitgestellt, eine Hauptsendeleitung Echternach-echternacherbrück-trier-frankfurt, daneben eine Sprechleitung Echternach-luxemburg-frankfurt. Die luxemburgische Zentralverwaltung, dann auch die Postämter Echternach und Echternacherbrück können mit Stolz für sich buchen, daß diese erste Übertragung auf einen großen Sender, die sie vorzunehmen hatten, ohne irgendwelche Störung in allen Teilen glänzend gelang. Universitätslektor Prof. Dr. Roedemeyer aus Frankfurt war mit der Leitung der um halb 11 Uhr beginnenden Funkreportage betraut. Er gab in seiner wundervollen Sprechweise – er ist unbestritten der beste Sprechkünstler Deutschlands und genießt als solcher internationalen Ruf – in packend geschlossener Weise seinen Eindruck von dem bisher Geschauten wieder; darauf sprach Herr Prof. Dr. Heß aus Esch über die geschichtliche Bedeutung der Springprozession, nach ihm umriß Herr Prof. Dr. Goetzinger aus Echternach ihre kultischliturgische Eigenart. Das Straßenmikrophon nahm die Klänge der Musikkapellen auf und die drei Sprecher führten einen erklärenden Dialog bis zum Schluß der Übertragung. Sofortige Anrufe bestätigten den guten Empfang der Übertragung in den europäischen Hauptstädten.
Dieser ersten Live-aufnahme, die nicht mehr erhalten ist, folgt zwei Jahre später eine weitere Zusammenarbeit mit dem Südwestdeutschen Rundfunk. Für die Zeit zwischen 1929 und 1939 geben die Aufnahmekataloge der Reichsrundfunk-gesellschaft (RRG) recht zuverlässig darüber Auskunft, was von den einzelnen Sendeanstalten aufgezeichnet und dauerhaft archiviert worden ist. Dort ist nur die Springprozession aus dem Jahre 1932 verzeichnet. Der Pfingstdienstag fällt im Jahre 1932 auf den 17. Mai, und unter diesem Datum wird die Reportage im Aufnahmekatalog auch geführt. Die Südwestdeutsche Rundfunk AG lässt die Aufnahme auf Schallplatte mitschneiden. Insgesamt beträgt die Laufzeit der Reportage gut 22 Minuten, die sich über sieben einseitig bespielte Schellackplatten erstreckt.14 Leider haben die Platten, die in eine größere Hörfolge über Luxemburg eingegliedert werden sollten, die Zeitläufte nicht überdauert bzw. sind verschollen.15
Für die Aufnahme hängt „ein erstes Mikrophon in der Basilika, ein zweites an der Außenseite der Kirche über dem Portal, ein drittes in der Bergstraße am Hutgeschäft Charles Decker. Alle Mikrophone sind direkt mit dem Senderaum Frankfurt verbunden, wo die Plattenaufnahme vorgenommen wird“.16 Trotz der starken Belastung der internationalen Fernsprechleitungen ist es den Toningenieuren gelungen, die Leitungen freizumachen. Zu hören sind u. a. das Läuten der großen Maximilianglocke, der „Veni Creator“-gesang der ausziehenden Geistlichkeit, die Schlusssätze des „Te Deum“und in „fein differenzierter Weise“17 einige Musikkapellen, die die Melodie der uralten Springprozession erklingen lassen.
Le Ménestrel vom 7. Juli 1895
So beschreibt Claude Schmit die Springprozession in seinem Roman „Reynaert aux pays des merveilles“, S. 227.
Le Figaro vom 1. Juni 1907
Le Petit Parisien vom 27. Mai 1912
Journal du Dimanche vom 29. Mai 1910
Marie Claire vom 3. Juni 1938 (66. Ausgabe)
Le Petit Journal vom 19. Mai 1937 (Titelseite und Seite 5) Siehe Dhordain Roland: Le roman de la radio: De la T.S.F. aux radios libres. La Table Ronde 1983
Luxemburger Wort vom 19. Mai 1937
L’avenir d’arcachon vom 29. November 1908 Luxemburger Wort vom 29. Juni 1935
Hollywood vom 14. Juni 1929
Luxemburger Wort vom 12. Juni 1930
Deutsches Rundfunkarchiv: Aufnahmekatalog 1929-1939, Matrizennummern Ffm 521 bis Ffm 527
Deutsches Rundfunkarchiv (DRA)
Luxemburger Wort vom 18. Mai 1932
Ibid.
Schellackplatten zur Ehre Willibrords