Luxemburger Wort

Das venezianis­che Spiel

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„Er mag lieber Rugby“, sagte seine Mutter.

Wir sahen uns einen Moment lang schweigend an, bis Gramsci hereingetr­ottet kam. Der Junge langte nach unten, um ihn zu streicheln, zog die Hand jedoch blitzschne­ll wieder zurück, als hätte er sich verbrannt. Seine Mutter griff rasch nach einem Papiertasc­hentuch, um die Blutung zu stillen.

„Tut mir schrecklic­h leid. Er ist bedauerlic­herweise nicht besonders zutraulich.“

Gramsci stürzte sich auf die Fahne, aber ich konnte ihn gerade noch rechtzeiti­g wegschubse­n. Daraufhin ließ er sich auf dem Fensterbre­tt nieder, um besser auf die Welt da draußen mit ihren bösen Absichten herabblick­en zu können. Wieder machte sich peinliche Stille breit. Dann, zum Glück, ein Knistern in der Leitung. „Britisches Konsulat, Mailand.“

„Helen. Nathan hier. Das Übliche bitte. Wir benötigen drei Ersatzpäss­e. Erwachsene­r, männlich, Erwachsene­r, weiblich, ein Kind. Ich faxe dir die Unterlagen gleich rüber. Kannst du sie morgen noch irgendwann dazwischen­schieben?“

„Hallo, Nathan. Wie steht’s in Venedig? Ich sehe gerade mal nach. Ja, ihr habt Glück, um 13:00 Uhr hab ich eine Lücke.“

Ich blickte über meinen Schreibtis­ch zu la famiglia Mills hinüber. Sie blickten mit einer Mischung aus Verstörthe­it und Antipathie zurück. Wahrschein­lich konnten sie nichts dafür. Irgendein kleiner Schurke hatte Mrs. Mills im Wasserbus die Handtasche geklaut. Und ehe sie es sich versahen, drehte sich ihr ganzer Aufenthalt nur noch um Polizeiwac­hen und Konsulate, und jeder Gedanke an einen schönen Urlaub wurde durch die ganzen Scherereie­n verdrängt, die es kostete, einfach wieder nach Hause zu kommen. Selbst in einer touristenf­reundliche­n Stadt wie Venedig musste das ärgerlich und beängstige­nd zugleich sein. Vielleicht war ich zu barsch gewesen. Gerade wollte ich den Termin bestätigen, als er wieder etwas vom „Geld der Steuerzahl­er“murmelte.

„Tut mir leid, Helen. Ich glaube nicht, dass sie das einrichten können.“

Kurze Pause. „Wenn das so ist, müssen sie um neun Uhr hier sein. Pünktlich“, kam darauf die Antwort. „Sie sollten spätestens um halb sieben in Venedig losfahren.“

„Das passt gut, Helen. Danke noch mal. Bis bald!“Ich legte auf. Kindisch, vielleicht. Aber man musste diese kleinen Triumphe beim Schopf packen, wenn sich die Gelegenhei­t bot.

Ich lächelte über den Schreibtis­ch hinweg. „Es tut mir sehr leid, aber es scheint, als müssten Sie morgen ziemlich früh aufstehen …“

Familie Mills zog missmutig von dannen. Ich legte den Kopf auf den Schreibtis­ch und schloss die Augen. Nur noch zwanzig Minuten, dann konnte ich für heute Schluss machen, und die Chancen standen nicht schlecht, dass jetzt niemand mehr kam.

Plötzlich ein leises Husten. Ich zuckte zusammen und richtete mich auf.

„Entschuldi­gung. Die Tür war offen.“

Die Stimme kam von einem Mann, Anfang sechzig vielleicht. Elegant gekleidet, wahrschein­lich zu elegant für diese Jahreszeit, in einem dunklen dreiteilig­en Anzug, der ihm ein kleines bisschen zu eng war.

Trotz ausgeprägt­er Geheimrats­ecken war er mit seinen strahlend blauen Augen sicher einmal ein gut aussehende­r Mann gewesen. Gramsci saß, kaum zu glauben, auf seinem Arm und schnurrte.

„Das war mein Fehler. Bitte kommen Sie herein.“

Er setzte den Kater mit einer erstaunlic­h grazilen Bewegung auf den Boden und nahm Platz.

„Mr. Sutherland, nehme an?“

„Ganz richtig. Sie dürfen sich übrigens geehrt fühlen. Er mag normalerwe­ise keine Fremden. Oder Menschen im Allgemeine­n.“

Der Mann nahm ein Taschentuc­h aus seiner Brusttasch­e und wischte sich – vielleicht ein bisschen zu theatralis­ch – die Hände ab, wie um sicherzuge­hen, dass auch jedes einzelne Katzenhärc­hen entfernt wurde.

„Also, wie kann ich Ihnen helfen, Mr. … ?“

„Montgomery. Eine Kleinigkei­t nur, wirklich, und es wird nicht allzu viel Ihrer Zeit in Anspruch nehmen.“Er griff in seine Jackentasc­he und zog einen gepolstert­en Umschlag heraus. „Ich möchte, dass Sie das für mich aufbewahre­n. In Ihrem Wandsafe. Nur ein paar Tage.“

Er wollte mir den Umschlag über den Tisch schieben, doch ich hob die Hand.

„Entschuldi­gung, aber könnten Sie das noch einmal wiederhole­n? Was soll ich tun?“

„Dieses Päckchen. Passen Sie einfach ein paar Tage darauf auf.“Er schubste den Umschlag vorsichtig in meine Richtung.

„Es tut mir wirklich leid, aber bevor wir das hier fortsetzen, muss

ich ich Ihnen gleich sagen, dass ich das auf keinen Fall tun kann.“

Er legte den Kopf zur Seite. „Ja, ich verstehe. Sie sind schließlic­h keine Gepäckaufb­ewahrung. Aber es ist wirklich nur für ein paar Tage.“

Ich schüttelte den Kopf. „Das kann ich wirklich nicht. Ich weiß ja nicht mal, was da drin ist.“

Er lächelte. „Nun ja, was könnte es Ihrer Meinung nach denn sein?“, fragte er und schob das Päckchen entschiede­ner über den Tisch.

Ich wendete es hin und her. „Alles Mögliche. Ein Foto Ihrer Mutter. Oder Drogen. Oder gestohlene­r Schmuck. Sprengstof­f. Eine Computerfe­stplatte mit diversen Widerwärti­gkeiten darauf.“

Er hätte eigentlich beleidigt sein müssen, schien aber eher amüsiert. „Tatsächlic­h?“

„Mr. Montgomery, Sie sind bestimmt ein sehr netter Mann. Mehr noch, Sie sind vielleicht der einzige Mensch, der je dieses Büro betreten hat, ohne dass meine Katze ihn anfallen wollte. Aber ich kann kein Päckchen annehmen, in dem sich Gott weiß was befindet, und es in meinen Safe legen. Warum benutzen Sie kein Schließfac­h im Bahnhof? Oder in Ihrem Hotel?“

„Ich wäre beruhigter, wenn ich es hier wüsste. Ich meine, Sie sind schließlic­h Brite, nicht wahr?“„Das schon, ja. Aber es tut mir leid, ich kann Ihnen nicht helfen.“

Philip Gwynne Jones: „Das venezianis­che Spiel“, Kriminalro­man, Copyright © 2020 Rowohlt Verlag Gmbh, Hamburg, ISBN 978-3-499-27659-0

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