Eine Revolution, aber eine kleine
Spanien führt erstmals eine nationale Sozialhilfe ein – In Zeiten der Corona-krise kommt sie gerade recht
Pedro Sánchez konnte der Versuchung nicht widerstehen: Er musste sich ordentlich auf die Schulter klopfen. „Wenn wir Sozialisten regieren“, schrieb der spanische Ministerpräsident am Freitagmittag auf Twitter, „schreitet Spanien voran. Mit dem Mindestlebenseinkommen bringen wir ein neues Recht für die Bürger auf den Weg und kommen bei der sozialen Gerechtigkeit voran.“Sein Selbstlob galt dem Beschluss des Regierungskabinetts, in Spanien eine nationale Sozialhilfe – Mindestlebenseinkommen genannt – einzuführen. Eine „historische Maßnahme“, sagte Sánchez bei anderer Gelegenheit. Und da ist was dran.
Spanien gehört zu den europäischen Ländern mit den höchsten Armutszahlen bei eher mager ausgebautem Sozialsystem. Nach Eurostat-zahlen für das Jahr 2018 sind in Spanien 26,1 Prozent der Bevölkerung von Armut oder sozialer Ausgrenzung bedroht, womit das Land an siebtletzter Stelle in der EU liegt. Die Sozialausgaben pro Kopf summierten sich 2017 auf gut 5 800 Euro, deutlich unter dem Eu-schnitt (knapp 8 400 Euro).
Die zwei Gesichter Spaniens
Die Armut springt einem in Spanien nicht ins Gesicht. Wer die Statistiken nicht kennt, sieht ein hoch entwickeltes, prosperierendes Land. Es ist ein Wunder, wie sich die Menschen durchschlagen, die ihren Arbeitsplatz verloren haben und nach kurzer Zeit (im besten Fall nach zwei Jahren) kein Arbeitslosengeld mehr bekommen. Meistens hilft die Familie aus, manchmal hilft schlecht bezahlte Schwarzarbeit. Wer nicht mehr weiter weiß, wendet sich an die Hilfsorganisationen. Und dort gab es in diesen Krisenwochen denn doch Bilder zu sehen, die einen
Eindruck vom sozialen Elend vermittelten: die „Hungerschlangen“. Menschen, die um Essen anstehen. Caritas kann noch keine Statistik anbieten, um wie viel der Bedarf seit Ausrufung des Alarmzustands Mitte März gestiegen ist. Aber alle Armenküchen in Spanien berichten von Hochbetrieb.
„Das Mindestlebenseinkommen ist ein wichtiger Schritt, um die Folgen dieser Krise zu lindern“, sagt Raúl Flores von Caritas Spanien. Nach dem Beschluss der Regierung vom Freitag soll ein Alleinstehender Anspruch auf ein monatliches Einkommen von 461,50 Euro haben; die maximale Hilfe für fünf- oder mehrköpfige Familien wird sich auf 1 015 Euro belaufen. Wer bereits andere, niedrigere Einkommen oder Hilfen bezieht, dem wird der Differenzbetrag zum Mindestlebenseinkommen
bezahlt. Voraussetzung für die Auszahlung ist die aktive Suche nach bezahlter Arbeit. Auch Ausländer, die seit mindestens einem Jahr legal in Spanien leben, haben Anspruch auf die neue Hilfe.
Die Regierung schätzt, dass rund 850 000 Haushalte, „die ärmsten 17 Prozent der Bevölkerung“, von dieser nationalen Sozialhilfe profitieren werden. Die Ausgaben dafür „werden sich auf drei Milliarden Euro im Jahr belaufen“, schreibt die Regierung in ihrer Pressemitteilung.
Wenn sich diese Zahl als korrekt herausstellen sollte, bedeutete das umgerechnet auf den Empfängerhaushalt eine monatliche staatliche Unterstützung von durchschnittlich gerade einmal knapp 295 Euro, also deutlich weniger als das versprochene „Mindestlebenseinkommen“. Der Rest, so hofft die Regierung, wird durch eigene Einkünfte oder durch schon bestehende, zumeist eher bescheidene Sozialhilfepläne der 17 Autonomen Regionen aufgefüllt.
Zweifel bei konkreter Umsetzung Ob diese Rechnung aufgeht, muss sich zeigen. Auffällig ist, dass die Regierung bisher keine Verwaltungskosten für die neue Subvention angesetzt hat. Die Arbeit sollen Stadt- und Provinzverwaltungen und die nationale Seguridad Social übernehmen. Ebenfalls auffällig ist die unterschiedslose Höhe der Hilfe, unabhängig von den Lebenshaltungskosten am Wohnort. Auch von Wohngeld ist bisher noch nicht die Rede. Kiko Lorenzo von Caritas Spanien sagt über die spanische Sozialhilfe: „Sie ist nicht gut genug organisiert, dass man von einem System sprechen könnte.“Aber ein Schritt zum Besseren ist an diesem Freitag getan worden.