Luxemburger Wort

Eine Revolution, aber eine kleine

Spanien führt erstmals eine nationale Sozialhilf­e ein – In Zeiten der Corona-krise kommt sie gerade recht

- Von Martin Dahms (Madrid)

Pedro Sánchez konnte der Versuchung nicht widerstehe­n: Er musste sich ordentlich auf die Schulter klopfen. „Wenn wir Sozialiste­n regieren“, schrieb der spanische Ministerpr­äsident am Freitagmit­tag auf Twitter, „schreitet Spanien voran. Mit dem Mindestleb­enseinkomm­en bringen wir ein neues Recht für die Bürger auf den Weg und kommen bei der sozialen Gerechtigk­eit voran.“Sein Selbstlob galt dem Beschluss des Regierungs­kabinetts, in Spanien eine nationale Sozialhilf­e – Mindestleb­enseinkomm­en genannt – einzuführe­n. Eine „historisch­e Maßnahme“, sagte Sánchez bei anderer Gelegenhei­t. Und da ist was dran.

Spanien gehört zu den europäisch­en Ländern mit den höchsten Armutszahl­en bei eher mager ausgebaute­m Sozialsyst­em. Nach Eurostat-zahlen für das Jahr 2018 sind in Spanien 26,1 Prozent der Bevölkerun­g von Armut oder sozialer Ausgrenzun­g bedroht, womit das Land an siebtletzt­er Stelle in der EU liegt. Die Sozialausg­aben pro Kopf summierten sich 2017 auf gut 5 800 Euro, deutlich unter dem Eu-schnitt (knapp 8 400 Euro).

Die zwei Gesichter Spaniens

Die Armut springt einem in Spanien nicht ins Gesicht. Wer die Statistike­n nicht kennt, sieht ein hoch entwickelt­es, prosperier­endes Land. Es ist ein Wunder, wie sich die Menschen durchschla­gen, die ihren Arbeitspla­tz verloren haben und nach kurzer Zeit (im besten Fall nach zwei Jahren) kein Arbeitslos­engeld mehr bekommen. Meistens hilft die Familie aus, manchmal hilft schlecht bezahlte Schwarzarb­eit. Wer nicht mehr weiter weiß, wendet sich an die Hilfsorgan­isationen. Und dort gab es in diesen Krisenwoch­en denn doch Bilder zu sehen, die einen

Eindruck vom sozialen Elend vermittelt­en: die „Hungerschl­angen“. Menschen, die um Essen anstehen. Caritas kann noch keine Statistik anbieten, um wie viel der Bedarf seit Ausrufung des Alarmzusta­nds Mitte März gestiegen ist. Aber alle Armenküche­n in Spanien berichten von Hochbetrie­b.

„Das Mindestleb­enseinkomm­en ist ein wichtiger Schritt, um die Folgen dieser Krise zu lindern“, sagt Raúl Flores von Caritas Spanien. Nach dem Beschluss der Regierung vom Freitag soll ein Alleinsteh­ender Anspruch auf ein monatliche­s Einkommen von 461,50 Euro haben; die maximale Hilfe für fünf- oder mehrköpfig­e Familien wird sich auf 1 015 Euro belaufen. Wer bereits andere, niedrigere Einkommen oder Hilfen bezieht, dem wird der Differenzb­etrag zum Mindestleb­enseinkomm­en

bezahlt. Voraussetz­ung für die Auszahlung ist die aktive Suche nach bezahlter Arbeit. Auch Ausländer, die seit mindestens einem Jahr legal in Spanien leben, haben Anspruch auf die neue Hilfe.

Die Regierung schätzt, dass rund 850 000 Haushalte, „die ärmsten 17 Prozent der Bevölkerun­g“, von dieser nationalen Sozialhilf­e profitiere­n werden. Die Ausgaben dafür „werden sich auf drei Milliarden Euro im Jahr belaufen“, schreibt die Regierung in ihrer Pressemitt­eilung.

Wenn sich diese Zahl als korrekt herausstel­len sollte, bedeutete das umgerechne­t auf den Empfängerh­aushalt eine monatliche staatliche Unterstütz­ung von durchschni­ttlich gerade einmal knapp 295 Euro, also deutlich weniger als das versproche­ne „Mindestleb­enseinkomm­en“. Der Rest, so hofft die Regierung, wird durch eigene Einkünfte oder durch schon bestehende, zumeist eher bescheiden­e Sozialhilf­epläne der 17 Autonomen Regionen aufgefüllt.

Zweifel bei konkreter Umsetzung Ob diese Rechnung aufgeht, muss sich zeigen. Auffällig ist, dass die Regierung bisher keine Verwaltung­skosten für die neue Subvention angesetzt hat. Die Arbeit sollen Stadt- und Provinzver­waltungen und die nationale Seguridad Social übernehmen. Ebenfalls auffällig ist die unterschie­dslose Höhe der Hilfe, unabhängig von den Lebenshalt­ungskosten am Wohnort. Auch von Wohngeld ist bisher noch nicht die Rede. Kiko Lorenzo von Caritas Spanien sagt über die spanische Sozialhilf­e: „Sie ist nicht gut genug organisier­t, dass man von einem System sprechen könnte.“Aber ein Schritt zum Besseren ist an diesem Freitag getan worden.

 ?? Foto: AFP ?? Freiwillig­e einer Madrider Hilfsorgan­isation beim Schnüren von Lebensmitt­elrationen: Durch die Corona-krise ist das ohnehin bereits hohe Armutsrisi­ko in Spanien weiter angestiege­n.
Foto: AFP Freiwillig­e einer Madrider Hilfsorgan­isation beim Schnüren von Lebensmitt­elrationen: Durch die Corona-krise ist das ohnehin bereits hohe Armutsrisi­ko in Spanien weiter angestiege­n.

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