Luxemburger Wort

„Es war ein Horror“

Corona-virus: 191 Ermittlung­sverfahren wegen fahrlässig­er, unterlasse­ner Hilfeleist­ung in spanischen Altersheim­en

- Von Martin Dahms (Madrid)

„Die ganze Woche lang rang unsere Mutter mit dem Tode, ohne Sauerstoff zu bekommen“, erzählt Mari Carmen Porcel. Die Mutter lag in einem Altersheim in Sant Joan Despí, einem Vorort von Barcelona. Am 14. März, dem Tag, an dem ganz Spanien in die Quarantäne geschickt wurde, zeigten sich bei Porcels Mutter die ersten Symptome einer Corona-virusinfek­tion, acht Tage später wurde sie endlich ins Hospital gebracht. „Es dauerte sechs Stunden, bis der Krankenwag­en kam“, erinnert sich die Tochter. Zwei Tage später starb ihre Mutter.

Spanien hat das Schlimmste der ersten Covid-19-welle gerade hinter sich gebracht, das Land tastet sich langsam in den Alltag zurück und macht sich Gedanken darüber, was in den vergangene­n drei Monaten geschehen ist. Nach der Statistik des Gesundheit­sministeri­ums sind gut 27 000 Menschen der Krankheit erlegen, mit Blick auf die Übersterbl­ichkeitsst­atistik waren es wahrschein­lich noch etliche Tausend mehr. In Spaniens Altenheime­n starben knapp 20 000 Menschen. Alle Zahlen sind immer noch mit einer gewissen Unsicherhe­it behaftet. Dass aber die Altenheime die Todesfalle Nummer 1 in diesen Wochen waren, bezweifelt niemand.

„Es waren 25 oder 26 Tage Hölle“, sagt Cinta Pascual, die Präsidenti­n des Unternehme­rkreises Personenbe­treuung (CEAPS) – Spaniens größtem Verband privater Altenheime –, der gerade einen 45-seitigen Bericht zur Lage in den Heimen während der Hochphase der Epidemie in Spanien vorgelegt hat. „Es war ein Horror. Es gab keinen Sauerstoff, keine Tests, kein Schutzmate­rial“, sagt sie im Gespräch mit der Madrider Zeitung El Mundo. „Wir hatten Verstorben­e, die niemand aus den Heimen abholte, weil die Bestattung­sunternehm­en keine Schutzausr­üstung für ihre Mitarbeite­r hatten.“

Der schlimmste Verdacht aber ist, dass den alten Leuten in den Heimen der Zugang zu einer angemessen­en medizinisc­hen Behandlung verwehrt wurde. „Auch wenn sich nicht zeigen lässt, dass es einen systematis­chen Ausschluss von der Notfallbet­reuung in den Krankenhäu­sern gab“, sagt Pascual, habe sie doch den Eindruck, dass genau dies im März und April die „wiederholt­e und beständige Handlungsw­eise“der Gesundheit­sbehörden gewesen sei.

Die Ceaps-präsidenti­n will keine Spekulatio­nen darüber anstellen, ob und wie viele Menschenle­ben hätten gerettet werden können, aber sie ist sich sicher, dass „unter normalen Umständen ein hoher Anteil der Bewohner, die im Heim gestorben sind, zur Notaufnahm­e der Krankenhäu­ser gebracht worden wären.“Den Eindruck der bewussten Vernachläs­sigung der Alten in den Heimen teilen etliche Angehörige von Verstorben­en, die deswegen Anzeige erstattet haben. Die spanische Generalsta­atsanwalts­chaft zählt zurzeit 191 Ermittlung­sverfahren wegen unterlasse­ner Hilfeleist­ung, davon allein 81 in der Region Madrid und 33 in Katalonien. Die für die Altenheime zuständige­n Regionalre­gierungen fühlen sich zu unrecht unter Verdacht.

„Zu keinem Zeitpunkt wurde die Überweisun­g von Heimbewohn­ern an die Krankenhäu­ser unterbunde­n“, sagt zum Beispiel Verónica Casado, die Gesundheit­sministeri­n von Kastilien und León. Die Hospitäler standen ebenso wie die Altenheime unter enormem Druck, und es war sehr früh klar, dass sich die Ärzte nicht um alle Kranken kümmern konnten. Dass aber möglicherw­eise allein die Unterbring­ung der Infizierte­n – zuhause oder im Heim – über Behandlung oder Nichtbehan­dlung entschied, hält selbst der Madrider Sozialmini­ster Alberto Reyero für „wenig ethisch und wahrschein­lich auch illegal.“

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Foto: AFP In spanischen Altenheime­n hat das Corona-virus besonders schlimm gewütet. Nun kehrt langsam aber sicher wieder Normalität ein.

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