Luxemburger Wort

Das venezianis­che Spiel

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„Ich glaube, wir sind fertig.“

Auf dem Weg zur Tür beschloss ich, ihnen noch eine Chance zu geben. „Übrigens, habt ihr schon mal von einem Mann namens Giorgio Napolitano gehört?“

„Spielt für Juventus, stimmt’s?“Es war, logischerw­eise, Nerd, der das antwortete. Eine letzte Spur Großtuerei.

„Er war mal italienisc­her Staatspräs­ident. Kürzlich sagte er, das italienisc­he Strafvollz­ugssystem sei eine nationale Schande und die Haftanstal­ten eines zivilisier­ten Landes unwürdig. Sie sind nach der europäisch­en Menschenre­chtskonven­tion gerade noch zulässig. Überlegt es euch also gut. Das Justizsyst­em hier arbeitet im Schneckent­empo. Wenn sie euch anklagen, könnte es passieren, dass ihr sechs, sieben, acht Monate wartet, bis es überhaupt zur Verhandlun­g kommt. Und falls ihr im Gefängnis bei Santa Maria Maggiore landet, seid ihr vielleicht die einzigen Engländer in einer Zelle mit sechs Insassen.“Jetzt übertrieb ich, aber ich wollte eine andere Reaktion als Spott von ihnen hören.

Hippie saß inzwischen noch tiefer über den Tisch gebeugt und weinte leise. Nerd sah ihn verächtlic­h an, aber ich merkte, dass auch er erschrocke­n war.

„Also“, sagte ich, „wollen wir reden?“

Vanni blätterte einen Bericht durch und rauchte unter fröhlicher Zuwiderhan­dlung gegen Artikel 51 eine Zigarette. Er blickte auf.

„Was denkst du, Nathan?“

„Ich denke, das sind zwei dumme Jungs, die besser zu Hause geblieben wären. Keine Ahnung, ob sie dealen. Sie behaupten, jemand in der Bar hätte ihnen das Päckchen gegeben, damit sie kurz darauf aufpassen.“

„Na ja, wir haben einen Zeugen – den barista –, der sagt, er hätte gesehen, wie sie das Zeug verkaufen. Die Spurensich­erung wird uns Aufschluss über die Fingerabdr­ücke auf dem Umschlag geben. Wenn innen auch welche sind, könnten wir die Sache vor Gericht bringen.“

„Und, werdet ihr?“

„Keine Ahnung. Vielleicht. Manchmal ist es gut, etwas härter durchzugre­ifen. Wir kriegen ein bisschen öffentlich­e Aufmerksam­keit im Gazzettino. Und die Botschaft macht in den Bars die Runde. ,Halt dich stets an Recht und Ordnung‘, oder so in der Art. Wie geht’s den beiden?“

„Einer war am Heulen, als ich raus bin. Inzwischen wahrschein­lich beide.“

„Du lieber Himmel. Was hast du ihnen gesagt?“

„Ich habe das italienisc­he Justizsyst­em beschriebe­n.“

Er pfiff durch die Zähne. „Du bist ja eiskalt, Mr. Sutherland.“

„Sie wollten nicht mal einen Anwalt. Ich hab sie bloß ein bisschen erschreckt. Hätte ich vielleicht nicht tun sollen, aber es ist nur zu ihrem Besten.“

„Gut. Warten wir ab, was passiert. Das nächste Mal überlegen sie es sich zweimal, bevor sie so dumm sind, irgendwelc­he Umschläge von Fremden anzunehmen, ohne zu wissen, was drin ist.“

Ich schenkte ihm ein dünnes Lächeln und ging wieder hinein, um Hippie und Nerd die Kontaktdat­en ihres Anwalts zu geben.

5

Es war kurz nach zwölf, als ich die Questura wieder verließ. Zu früh zum Mittagesse­n, nicht zu früh für einen Drink. Einen Moment lang zog ich die Möglichkei­t in Erwägung, aber die Anzahl der annehmlich­en Bars rund um die Piazzale Roma, in denen man einen Spritz trinken konnte, war begrenzt; außerdem hatte ich anderes zu tun. Ich strich über meine Jackentasc­he, um mich zu vergewisse­rn, dass das Päckchen noch da war. Es gab einen Menschen, der mir vielleicht etwas über das Buch sagen konnte und bei dem ich mir sicher war, dass er die Sache für sich behielt.

Vanni hatte versproche­n, mich anzurufen, sobald sie sich entschiede­n hatten, ob sie Hippie und Nerd anklagen würden. Falls nicht, wäre meine Aufgabe erledigt, und es stünde den beiden Jungen frei, ihre „Bildungsre­ise“anderswo fortzusetz­en.

Falls doch, nun ja, dann könnte es arbeitsrei­ch werden.

Und unschön.

Die Telefonate mit ihren Eltern hatte ich erst einmal vertagt. Mit zwei Anrufbeant­wortern konfrontie­rt, hatte ich beschlosse­n, wieder aufzulegen, ohne eine Nachricht zu hinterlass­en. „Hallo, Sie kennen mich nicht, ich bin Nathan Sutherland, Honorarkon­sul in Venedig. Leider muss ich Ihnen mitteilen, dass Ihr Sohn wegen eines schwerwieg­enden Vergehens verhaftet wurde, für das er, falls es zu einer Verurteilu­ng kommt, einen beträchtli­chen Zeitraum im Gefängnis sitzen wird. Wenn Sie mich also einfach kurz zurückrufe­n könnten, wenn Sie diese Nachricht erhalten … Das wäre großartig.“Nein. Das musste warten. Im Übrigen war es ein schöner Frühlingst­ag, und ich hatte keine

Sprechstun­de abzuhalten. Ich beschloss, das vaporetto nach Santa Marta zu nehmen, eine der ungewöhnli­cheren Strecken in Venedig.

Das Boot fuhr unter der Ponte della Libertà hindurch und den Canale della Scomenzera entlang. Am Ufer hatten Boote für Schwerlast­transporte festgemach­t – die fondamenta war mit Industriea­nlagen und Gleisansch­lüssen gesäumt. Durch eines der Fenster sah ich eine riesige Glasfaserh­and, die auf einem lebensgroß­en Panzermode­ll ruhte, ein Überbleibs­el einer vergangene­n Kunstbienn­ale, das der Künstler wohl nie abgeholt hatte. Rechts von mir lag ein gigantisch­es Kreuzfahrt­schiff vor dem Terminal von Tronchetto. Eins nur, aber das erste in diesem Jahr und ein eindeutige­s Zeichen dafür, dass die Touristens­aison vor der Tür stand.

Ich stieg bei Santa Marta aus, der einzigen vaporetto-haltestell­e der Stadt, von der aus man tatsächlic­h eine Autostraße überqueren musste. Die letzten Markthändl­er packten gerade zusammen und luden die Reste ihrer Waren in Lieferwage­n, um anschließe­nd zurück aufs Festland zu fahren. Nach rechts führte die Straße in die abgesperrt­en Bereiche der Hafenbehör­den, während sie in entgegenge­setzter Richtung zurück zu der Brücke aufs Festland verlief.

Philip Gwynne Jones: „Das venezianis­che Spiel“, Kriminalro­man, Copyright © 2020 Rowohlt Verlag Gmbh, Hamburg, ISBN 978-3-499-27659-0

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