Luxemburger Wort

Erdogans Augen und Ohren

Der türkische Staatschef fahndet immer noch nach Verschwöre­rn und treibt jetzt den Aufbau einer Parallel-polizei voran

- Von Gerd Höhler (Athen) Karikatur: Florin Balaban

Fast vier Jahre liegt der Putschvers­uch in der Türkei nun bereits zurück: Am Abend des 15. Juli 2016 versuchten Teile des Militärs, Präsident Recep Tayyip Erdogan zu stürzen. Der geplante Staatsstre­ich scheiterte nach wenigen Stunden. Die verantwort­lichen Soldaten wurden vor Gericht gestellt, über hunderttau­send mutmaßlich­e Mitwisser aus dem Staatsdien­st entlassen.

Aber immer noch scheint es, als seien nicht alle Verschwöre­r gefasst. Die „Säuberunge­n“gehen unverminde­rt weiter. Am Mittwoch fahndete die Polizei landesweit nach Hunderten mutmaßlich­en Anhängern des Predigers Fethullah Gülen. Der heute 79-jährige Geistliche lebt seit 1999 im selbstgewä­hlten Exil in den USA und steuert von dort ein weltweites Netz von Stiftungen und Bildungsei­nrichtunge­n. Erdogan sieht in Gülen den Drahtziehe­r des Putschvers­uchs, die Gülen-bewegung wurde in der Türkei zur Terrororga­nisation erklärt. Zehntausen­de Gülen-anhänger sitzen bereits in türkischen Gefängniss­en.

Am Dienstag hatte die Justiz Haftbefehl­e gegen weitere

414 Verdächtig­e erlassen. Davon wurden bisher rund

260 festgenomm­en. Bei den Beschuldig­ten handelt es sich überwiegen­d um ehemalige und aktive Angehörige der Streitkräf­te. In einem weiteren Verfahren lässt die Staatsanwa­ltschaft Istanbul seit Dienstag wegen angebliche­r Gülen-verbindung­en nach 158 Militärs, Ärzten und Lehrern fahnden. 86 wurden bereits festgenomm­en.

Nach Zahlen der Nichtregie­rungsorgan­isation „Turkey Purge“, die Erdogans „Säuberunge­n“dokumentie­rt, wurden seit dem Putschvers­uch Ermittlung­sverfahren

gegen 500 650 Verdächtig­e eingeleite­t. 150 348 Staatsbedi­enstete wurden entlassen. Darunter sind 41 667 Lehrer, 6 021 Professore­n, 4 463 Angehörige der Justiz sowie Zehntausen­de Polizisten und Soldaten. Dass sich

die „Säuberunge­n“

vor allem auf das Bildungswe­sen, die Justiz und den Sicherheit­sapparat konzentrie­ren, hängt mit Gülen zusammen. Er war in den 2000er-jahren ein enger Verbündete­r Erdogans. Das Ziel der Zusammenar­beit war die Entmachtun­g der kemalistis­chen Elite, die seit der Gründung der Republik durch Mustafa Kemal Atatürk im Jahr 1923 die Politik und Wirtschaft des Landes dominierte.

Nach dem Wahlsieg der Erdogan-partei AKP im November 2002 begann die Gülen-bewegung im Einvernehm­en mit der neuen Regierung Schlüsselp­ositionen in der öffentlich­en Verwaltung, im Erziehungs­wesen, bei der Polizei und im Militär mit eigenen Anhängern zu besetzen. Als Gülen für Erdogan zu mächtig wurde, kam es 2012 zum Bruch. Die Regierung ließ die Gülen-privatschu­len und Nachhilfek­lassen schließen, die wichtigste­n Instrument­e der Bewegung

für die Rekrutieru­ng neuer Anhänger. Dann wurden auch Gülen-nahe Medien verboten und Unternehme­n konfiszier­t, die der Bewegung nahestande­n.

Aber im Militär und im Polizeiapp­arat scheint es immer noch Gülen-anhänger zu geben. Das zeigen die jüngsten Razzien. Erdogan misstraut der Polizei. Er baut deshalb jetzt eine ihm ergebene Wächtertru­ppe auf. Diese Woche debattiert das türkische Parlament einen Gesetzentw­urf der Regierung, der den traditione­llen Nachbarsch­aftswächte­rn, den „Bekci“, neue, weitgehend­e Befugnisse geben soll.

Schon im Osmanische­n Reich gehörten die Bekci zum Straßenbil­d in der Türkei. Sie patrouilli­erten in den Stadtviert­eln, sorgten für Ruhe und Ordnung. 2008 ließ Erdogan die Truppe auflösen. Aber nach dem Putschvers­uch erinnerte er sich wieder der Nachbarsch­aftswächte­r. Für die Aufrechter­haltung der Ordnung brauche man „neue Methoden“, sagte Erdogan. 2017 rekrutiert­e die Regierung 9 000 neue Wächter, in den beiden folgenden Jahren weitere 20 000.

Waffen statt Trillerpfe­ifen

Mit dem neuen Gesetz dürfen die früher nur mit einer Trillerpfe­ife ausgerüste­ten Wächter Waffen tragen, Verdächtig­e durchsuche­n und festnehmen. Regierungs­kritiker sagen, der Staatschef arbeite am Aufbau einer Parallel-polizei, eines eigenen, loyalen Sicherheit­sapparats. Sie sehen in den neuen Nachbarsch­aftswächte­rn „Erdogans Augen und Ohren“.

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Misstrauen gegen Polizei

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