Bürgerprotest statt Rassenunruhen
Die USA erleben mit den „Black-lives-matter“-protesten die Geburtsstunde einer neuen sozialen Bewegung
Am Tag der Beisetzung George Floyds verbreitete der Us-präsident die jüngste seiner bis dahin 19 127 falschen oder irreführenden Behauptungen seiner Amtszeit. Trump mutmaßte auf Twitter, der während einer Demonstration in Buffalo im Bundesstaat New York brutal auf den Boden gestoßene 75jährige Mann sei ein Antifa-aktivist, der Polizeiequipment zerstören wollte. „Könnte es sein, dass alles nur gestellt ist?“Nein, kann es nicht.
Martin Gugino ist ein katholischer Friedensaktivist, der gegen Rassismus und Polizeigewalt auf die Straße gegangen war, um selber zu einem Opfer zu werden. Die Beamten ließen den alten Mann vergangenen Donnerstag mit einer blutenden Kopfwunde auf der Straße liegen. Bis heute befindet sich der Rentner mit seinen schweren Verletzungen im Krankenhaus. Die Brutalität des Polizeieinsatzes in Buffalo ist genauso auf Video dokumentiert, wie die gegen Floyd. Dass Trump sich auf den obskuren Bericht eines „Reporters“von „One America News Network“(OANN) beruft, der auch für den russischen Propagandadienst „Sputnik“arbeitet, überschreitet eine weitere Grenze.
Trump verkalkuliert sich bei Einschätzung der Proteste
Trump unterminiert nach Ansicht von Analysten damit nicht die überwiegend friedlichen Proteste, die in mehr als 140 Städten in allen Bundesstaaten ein Ende des strukturellen Rassismus in den USA verlangen, sondern schadet der eigenen Glaubwürdigkeit des Präsidenten.
Dieser hatte zu Beginn der Proteste getwittert: „Wenn das Plündern beginnt, fängt das Schießen an.“Dieser Satz stammt nicht von ihm, sondern dem notorisch rassistischen Polizeichef von Miami, Walter Headley, während der Rassenunruhen von 1967. Später behauptete Trump, der schwarze Block der Antifa-bewegung führe die Regie auf der Straße und drohte mit dem Einsatz des Militärs.
Unbestritten kam es bei den Protesten in New York, Washington, Minneapolis, Los Angeles und vielen anderen Orte zu Plünderungen. Vor allem am ersten Juniwochenende, als die Wut über den Tod eines weiteren Afroamerikaners in den Straßen kochte und die Demonstrationen eher spontan als organisiert waren.
Der Chef der Polizeiaufklärung in New York, John Miller, nennt die gut koordinierten Plünderungen in Teilen der Stadt „ein Versagen unserer Beobachtung“. Seine Abteilung habe nicht damit gerechnet. „So etwas sehen sie normalerweise nicht bei solchen Protesten.“Miller spricht von „opportunistischen Aktionen regulärer Krimineller“, die „nichts mit dieser Bewegung zu tun haben.“
Ähnliche Beobachtungen machen Experten und Verantwortliche auch in anderen Städten. Der Gouverneur von Minnesota, Tim Waltz, erklärte zu Beginn der Proteste in Minneapolis, es gebe Hinweise auf Provokateure von außen, die versuchten, die Situation auszunutzen.
Solche Differenzierungen gehen angesichts spektakulärer Fernsehbilder von eingeschlagenen Schaufenstern, brennenden Polizeiwagen verloren. Tatsächlich blieben die Massenproteste in den USA überwiegend friedlich.
Der Soziologe George Derek Musgrove von der University of Maryland sagt, Vergleiche mit den Unruhen von 1968 gingen an der Realität der „Black Lives Matter“proteste vorbei. Damals hätten die Angehörigen einer verzweifelten „afro-amerikanischen Unterklasse“aufbegehrt, die nach dem Mord an Martin Luther King die Hoffnung verloren hätte.
Heute würden die Proteste aus der Mittelklasse getragen. „Das ist eine multikulturelle Bewegung.“Sichtbarer Beleg für die Breite der Proteste war die Teilnahme des ehemaligen republikanischen Präsidentschaftskandidaten Mitt Romney an einer Demonstration entlang der neu errichteten Zäune vor dem Lafayette-platz in Washington am Wochenende. Laut einer aktuellen Umfrage der Washington Post unterstützen fast drei von vier Amerikanern die Proteste. Sieben von zehn halten Rassismus für ein „großes Problem“. Ein deutlicher Stimmungsumschwung zu der Haltung der Amerikaner vor sechs Jahren nach den Unruhen von Ferguson.
„Black Lives Matter“sei damals noch eine „radikale Idee“gewesen, reflektiert Mitbegründerin Alicia Garza die Entwicklung von einer lautstarken Minderheit zu einer sozialen Bewegung. „Das Thema wird jetzt überall am Küchentisch diskutiert.“
Sogar die konservative Führung der National Football League (NFL), die den schwarzen Superstar Colin Kaepernick 2017 verbannte, weil er mit einer Kniebeuge auf dem Spielfeld gegen Polizeigewalt protestierte, machte eine Kehrtwende.
Analysten sehen in dem Versuch des Präsidenten, die Proteste zu diskreditieren, wie sehr ihn seine politischen Instinkte verlassen haben. Nirgendwo ist das klarer zu beobachten als in Washington. Die angekündigten Soldaten kamen nicht. Stattdessen zog die Nationalgarde aus den Straßen ab. Der Zaun vor dem Lafayette-platz wird abgebaut und das Tränengas wich Protesten, die mehr die Atmosphäre eines Straßenfests haben. Nur noch die vernagelten Schaufenster erinnern an die Plünderungen und Gewalt von Anfang Juni.
Bürgermeisterin Muriel Bowser erklärt das mit dem massiven Wachstum der Proteste. „Leute, die Randale machen wollten, gingen in der Masse unter.“Seun Babalola, der die tagelangen „Black Lives Matter“-proteste in Washington mitorganisiert hat, räumt ein, „in den ersten Tagen hat es extrem angespannte Situationen gegeben“.
Inzwischen sorgen die Demonstranten selber für Ordnung. Als ein junger Mann am Sonntag in der Nähe des Lafayette-platzes vor dem Weißen Haus auf ein Straßenschild kletterte, buhten ihn andere aus. „Gib ihm keinen Vorwand“, rief ihm einer aus der Menge zu, die dann skandierte: „Friedlicher Protest!“