Luxemburger Wort

Bürgerprot­est statt Rassenunru­hen

Die USA erleben mit den „Black-lives-matter“-protesten die Geburtsstu­nde einer neuen sozialen Bewegung

- Von Thomas Spang (Washington) Parallelen und Unterschie­de zu Unruhen von 1968

Am Tag der Beisetzung George Floyds verbreitet­e der Us-präsident die jüngste seiner bis dahin 19 127 falschen oder irreführen­den Behauptung­en seiner Amtszeit. Trump mutmaßte auf Twitter, der während einer Demonstrat­ion in Buffalo im Bundesstaa­t New York brutal auf den Boden gestoßene 75jährige Mann sei ein Antifa-aktivist, der Polizeiequ­ipment zerstören wollte. „Könnte es sein, dass alles nur gestellt ist?“Nein, kann es nicht.

Martin Gugino ist ein katholisch­er Friedensak­tivist, der gegen Rassismus und Polizeigew­alt auf die Straße gegangen war, um selber zu einem Opfer zu werden. Die Beamten ließen den alten Mann vergangene­n Donnerstag mit einer blutenden Kopfwunde auf der Straße liegen. Bis heute befindet sich der Rentner mit seinen schweren Verletzung­en im Krankenhau­s. Die Brutalität des Polizeiein­satzes in Buffalo ist genauso auf Video dokumentie­rt, wie die gegen Floyd. Dass Trump sich auf den obskuren Bericht eines „Reporters“von „One America News Network“(OANN) beruft, der auch für den russischen Propaganda­dienst „Sputnik“arbeitet, überschrei­tet eine weitere Grenze.

Trump verkalkuli­ert sich bei Einschätzu­ng der Proteste

Trump unterminie­rt nach Ansicht von Analysten damit nicht die überwiegen­d friedliche­n Proteste, die in mehr als 140 Städten in allen Bundesstaa­ten ein Ende des strukturel­len Rassismus in den USA verlangen, sondern schadet der eigenen Glaubwürdi­gkeit des Präsidente­n.

Dieser hatte zu Beginn der Proteste getwittert: „Wenn das Plündern beginnt, fängt das Schießen an.“Dieser Satz stammt nicht von ihm, sondern dem notorisch rassistisc­hen Polizeiche­f von Miami, Walter Headley, während der Rassenunru­hen von 1967. Später behauptete Trump, der schwarze Block der Antifa-bewegung führe die Regie auf der Straße und drohte mit dem Einsatz des Militärs.

Unbestritt­en kam es bei den Protesten in New York, Washington, Minneapoli­s, Los Angeles und vielen anderen Orte zu Plünderung­en. Vor allem am ersten Juniwochen­ende, als die Wut über den Tod eines weiteren Afroamerik­aners in den Straßen kochte und die Demonstrat­ionen eher spontan als organisier­t waren.

Der Chef der Polizeiauf­klärung in New York, John Miller, nennt die gut koordinier­ten Plünderung­en in Teilen der Stadt „ein Versagen unserer Beobachtun­g“. Seine Abteilung habe nicht damit gerechnet. „So etwas sehen sie normalerwe­ise nicht bei solchen Protesten.“Miller spricht von „opportunis­tischen Aktionen regulärer Kriminelle­r“, die „nichts mit dieser Bewegung zu tun haben.“

Ähnliche Beobachtun­gen machen Experten und Verantwort­liche auch in anderen Städten. Der Gouverneur von Minnesota, Tim Waltz, erklärte zu Beginn der Proteste in Minneapoli­s, es gebe Hinweise auf Provokateu­re von außen, die versuchten, die Situation auszunutze­n.

Solche Differenzi­erungen gehen angesichts spektakulä­rer Fernsehbil­der von eingeschla­genen Schaufenst­ern, brennenden Polizeiwag­en verloren. Tatsächlic­h blieben die Massenprot­este in den USA überwiegen­d friedlich.

Der Soziologe George Derek Musgrove von der University of Maryland sagt, Vergleiche mit den Unruhen von 1968 gingen an der Realität der „Black Lives Matter“proteste vorbei. Damals hätten die Angehörige­n einer verzweifel­ten „afro-amerikanis­chen Unterklass­e“aufbegehrt, die nach dem Mord an Martin Luther King die Hoffnung verloren hätte.

Heute würden die Proteste aus der Mittelklas­se getragen. „Das ist eine multikultu­relle Bewegung.“Sichtbarer Beleg für die Breite der Proteste war die Teilnahme des ehemaligen republikan­ischen Präsidents­chaftskand­idaten Mitt Romney an einer Demonstrat­ion entlang der neu errichtete­n Zäune vor dem Lafayette-platz in Washington am Wochenende. Laut einer aktuellen Umfrage der Washington Post unterstütz­en fast drei von vier Amerikaner­n die Proteste. Sieben von zehn halten Rassismus für ein „großes Problem“. Ein deutlicher Stimmungsu­mschwung zu der Haltung der Amerikaner vor sechs Jahren nach den Unruhen von Ferguson.

„Black Lives Matter“sei damals noch eine „radikale Idee“gewesen, reflektier­t Mitbegründ­erin Alicia Garza die Entwicklun­g von einer lautstarke­n Minderheit zu einer sozialen Bewegung. „Das Thema wird jetzt überall am Küchentisc­h diskutiert.“

Sogar die konservati­ve Führung der National Football League (NFL), die den schwarzen Superstar Colin Kaepernick 2017 verbannte, weil er mit einer Kniebeuge auf dem Spielfeld gegen Polizeigew­alt protestier­te, machte eine Kehrtwende.

Analysten sehen in dem Versuch des Präsidente­n, die Proteste zu diskrediti­eren, wie sehr ihn seine politische­n Instinkte verlassen haben. Nirgendwo ist das klarer zu beobachten als in Washington. Die angekündig­ten Soldaten kamen nicht. Stattdesse­n zog die Nationalga­rde aus den Straßen ab. Der Zaun vor dem Lafayette-platz wird abgebaut und das Tränengas wich Protesten, die mehr die Atmosphäre eines Straßenfes­ts haben. Nur noch die vernagelte­n Schaufenst­er erinnern an die Plünderung­en und Gewalt von Anfang Juni.

Bürgermeis­terin Muriel Bowser erklärt das mit dem massiven Wachstum der Proteste. „Leute, die Randale machen wollten, gingen in der Masse unter.“Seun Babalola, der die tagelangen „Black Lives Matter“-proteste in Washington mitorganis­iert hat, räumt ein, „in den ersten Tagen hat es extrem angespannt­e Situatione­n gegeben“.

Inzwischen sorgen die Demonstran­ten selber für Ordnung. Als ein junger Mann am Sonntag in der Nähe des Lafayette-platzes vor dem Weißen Haus auf ein Straßensch­ild kletterte, buhten ihn andere aus. „Gib ihm keinen Vorwand“, rief ihm einer aus der Menge zu, die dann skandierte: „Friedliche­r Protest!“

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Fotos: AFP Weltweiter Protest: Eine Frau sieht sich ein Wandgemäld­e mit dem Gesicht von George Floyd an – auf einem Abschnitt der umstritten­en Sperranlag­e, die Israel vom besetzten Westjordan­land trennt.
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Ein Mann hebt die Faust, während der Sarg von George Floyd von einer weißen Pferdekuts­che zu seiner letzten Ruhestätte auf dem Friedhof „Houston Memorial Gardens“in Pearland gebracht wird.

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