Nichts gelernt
Mexiko fährt das Land vor dem Höhepunkt der Pandemie wieder hoch – und wiederholt damit einen brasilianischen Fehler
Es sind surreale Bilder, die man dieser Tage in Mexico City sieht. Während Streifenwagen durch die Straßen fahren und die Menschen über Lautsprecher dazu auffordern, zu Hause zu bleiben, stürmt die Bevölkerung die Parks und Spielplätze, treffen sich ältere Damen ohne Mundschutz zum Plausch, kehren die Straßenhändler zurück und öffnen immer mehr Cafés und Restaurants zum Außerhaus-verkauf. Gut hundert Tage nach der ersten Corona-infektion und noch vor dem Höhepunkt der Pandemie im Land tun die Mexikaner so, als sei wieder alles so wie vor der Pandemie.
Dabei sterben im zweitgrößten Land Lateinamerikas derzeit zwischen 350 und 1 000 Menschen täglich. Vize-gesundheitsminister Hugo López-gatell warnt händeringend davor, die Krankheit auf die leichte Schulter zu nehmen. „Es möge sich niemand in Sicherheit wiegen“, predigt der Corona-beauftragte fast jeden Abend live im Fernsehen. „In ganz Mexiko steht die Ampel auf rot, wir befinden uns im Moment der maximalen Ansteckungen mit Covid-19.“
Falsches Signal des Präsidenten
Mit mehr als 124 000 Infizierten und rund 15 000 Toten steht Mexiko mittlerweile weltweit ganz weit oben. Nur sechs andere Länder haben mehr Todesopfer zu beklagen. Auch die Weltgesundheitsorganisation (WHO) warnte Anfang der Woche, dass Lateinamerika die Region sei, in der derzeit die Ansteckungen am schnellsten steigen. Folgerichtig kritisiert die WHO die vorschnellen Lockerungen in Mexiko, dabei sei der Höhepunkt der Pandemie hier noch gar nicht erreicht.
Aber ausgerechnet Präsident Andrés Manuel López Obrador fällt seinem Vize-gesundheitsminister immer wieder in den Rücken. Der linksgerichtete Staatschef erklärte die Pandemie schon Ende Mai für „gezähmt“, reist seit Beginn des Monats wieder fröhlich durchs Land, weiht ohne Mundschutz seine Megaprojekte wie die Zugstrecke „Tren Maya“ein und fährt allmählich die Wirtschaft des Landes wieder hoch.
„Der Großteil der Bevölkerung denkt, dass das Schlimmste bereits überwunden ist“, warnt der Mediziner der Covid-einheit am „Centro Médico ABC“, einem der größten Privathospitäler in Mexico City. „Und das liegt vor allem an dem Signal, das der Präsident aussendet.“Es hat den Anschein, als habe Mexiko aus der brasilianischen Tragödie nichts gelernt. Ignorieren, verneinen und zur Tagesordnung übergehen hat auch in Brasilien tödliche Folgen. Dort sind mittlerweile fast 38 000 Menschen gestorben, weil der irrlichternde Präsident Jair Bolsonaro Covid-19 für eine „kleine Grippe“hält und sich vehement gegen Restriktionen wehrt.
Und so gilt in Mexiko jetzt die „neue Normalität“, im Rahmen derer die Bauwirtschaft, Bergwerke und auch die für das Land so wichtige Automobilindustrie wieder die Produktion hochfahren dürfen. Seit Anfang Juni arbeiten Zulieferer
und Autobauer wieder auf rund einem Drittel der Kapazität. Die deutschen Hersteller Volkswagen und Audi wollen vom 15. Juni an die Bänder wieder anlaufen lassen. Weitere Lockerungen sind geplant für Mitte des Monats.
„Die neue Normalität ist für unsere Volkswirtschaft und das Wohlergehen unserer Bevölkerung wichtig“, betont López Obrador immer wieder und stellt damit die Wirtschaft über die Gesundheit. Der Präsident spürt den ökonomischen Druck. Denn zum einen kollabiert die heimische Wirtschaft unter der Pandemie, allein im Monat April gingen mehr Arbeitsplätze verloren, als Mexiko im gesamten vergangenen Jahr schaffen konnte. Seit Beginn der Pandemie wurden rund eine Million Jobs temporär oder dauerhaft abgebaut.
Ökonomen malen daher mittelfristig ein schwarzes Zukunftspanorama für die zweitgrößte Volkswirtschaft Lateinamerikas. Zwischen sechs und zehn Prozent könnte das Bruttoinlandsprodukt Mexikos in diesem Jahr einbrechen. Die Regierung befürchtet, dass bis zu zehn Millionen Menschen in Armut fallen könnten.
Zuschüsse für informellen Sektor Dennoch verweigert der Präsident ein Rettungspaket oder Steuererleichterungen, so wie sie westliche Industriestaaten oder auch Länder der Region beschlossen haben. Chile, Peru oder auch Brasilien haben Hilfspakete mit Werten von acht bis zwölf Prozent der Bruttoinlandsprodukte beschlossen. Aber López Obrador denkt, das Geld würde vor allem den großen Unternehmen dienen, die es eigentlich gar nicht bräuchten oder sein Land ausländischen Schuldnern oder internationalen Finanzinstitutionen ausliefern. Er setzt stattdessen auf Kürzungen.
Und so werden Behörden gestutzt, Gehälter reduziert, Boni gestrichen. Immerhin bekommen die Menschen im informellen Sektor, in dem knapp zwei Drittel der mexikanischen Arbeitnehmer ohne festes Gehalt und soziale Sicherung beschäftigt sind, Zuschüsse und Darlehen.
Für Carlos Urzúa, zu Beginn seiner Regierung Finanzminister unter López Obrador, ist das ein gefährlicher Weg. „Wenn die Regierung dem privaten Sektor nicht hilft, wird das Bruttoinlandsprodukt um zehn Prozent fallen“, warnt Urzúa. „Der Präsident hat nicht die leiseste Idee von dem Sturm, der Mexiko droht.“