Grassierender Exotismus
Fernweh, Sensationslust und Zivilisationsmüdigkeit feuerten in den 1920er-jahren die Begeisterung des Publikums für die Indianer an. Selbst Rassisten, Militaristen und überzeugte Nazis schwärmten für Indianer und andere indigene Völker.
Winnetou und Old Shatterhand – wer hat nicht schon einmal von ihnen gehört oder gelesen? Die Freundschaft zwischen diesem edlen Indianer und dem mutigen Trapper war zu schön, um wahr zu sein. Schließlich handelte es sich hier um Kunstfiguren, um exotische Fantasieprodukte eines Menschen, der in armen Verhältnissen aufwuchs und als junger Mann gerichtsnotorisch wurde. Mit Winnetou & Co erfand er sich eine Wunderwelt, in die er sich aus der trüben Realität flüchten konnte.
Karl May stammte aus einer mittellosen Weberfamilie mit vielen Kindern. Zeitweilig wurde er steckbrieflich als Hochstapler gesucht, mehrmals verbüßte er Haftstrafen wegen Betruges, Titelanmaßung und Diebstahls. In der Lebensmitte gelang ihm der Durchbruch als Autor und er konnte sich von seinen Einnahmen als Bestsellerautor den Bau der Villa Shatterhand im Dresdner Villenvorort Radebeul
leisten, wo er bis zu seinem Tod residierte. May begeisterte die Leser mit seinen Büchern, weil sie authentische Erlebnisse suggerierten. Sein kapitaler Fehler war, dass er zum Zeitpunkt der Niederschrift seiner Hauptwerke weder den Mittleren Osten noch Nordamerika besucht hatte. Vielmehr steigerte er sich gänzlich in eine fiktive Identität hinein: Er ließ Postkarten drucken, auf denen er in exotischer Verkleidung als seine eigene literarische Figur „Old Shatterhand“posierte. Sein Arbeitszimmer in der Villa Shatterhand drapierte er mit zahllosen Gegenständen, Teppichen und ausgestopften Tieren, um sich als Weltenbummler in Szene zu setzen. Erst später holte er diese Reisen nach. Die Lücke im Lebenslauf blieb und handelte ihm massive Kritik und zermürbende Rechtsstreitigkeiten ein. Dabei wurde wiederholt sein Vorleben als Kleinkrimineller und Hochstapler thematisiert. Auch Plagiate ließen sich ihm nachweisen. Dennoch führte die mangelnde Seriosität des Autors nicht zur Abwendung des Publikums: Karl-may blieb ein Gigant des Buchmarktes, der bis heute eine Gesamtauflage von über 100 Millionen Büchern erreichte – vor allem in deutschsprachigen Ländern, doch wurden seine Werke auch in 46 andere Sprachen übersetzt.
Die Begeisterung für die Indianer speiste sich aus einer seit 1900 wachsenden Zivilisationsund Modernismuskritik. In Kunst, Wissenschaft und Populärkultur grassierte ein Exotismus, man bewunderte die in kolonialen Reservaten zusammengedrängten „ursprünglich“gebliebenen Völker, attestierte ihnen Vitalität, Mut, Kraft, Fruchtbarkeit, Ehrlichkeit und vieles mehr, was der „überzivilisierte“Mensch mittlerweile bei sich selbst vermisste. Einzelne Mitglieder indigener Gemeinschaften gingen mit zirkusähnlichen Völkerschauen auf Tour oder wurden individuell berühmt. Auch in der Zwischenkriegszeit ließ die Begeisterung für Indianer nicht nach. Indianer wurden von großen Zirkusunternehmen unter Vertrag genom
men und reisten durch Europa, so hatte der renommierte Münchner Zirkus Krone in den 1920er-jahren ganze Gruppen von Southern Cheyenne und Irokesen engagiert. Zudem weckte das vom Völkerbund (dem Vorläufer der UN) verkündete „Selbstbestimmungsrecht der Völker“auch indianische Ansprüche: 1923 reiste Häuptling Deskaheh nach Genf – als Vertreter von kanadischen Irokesenstämmen, die sich zum „Bund der Six Nations“zusammengeschlossen hatten. Sie sorgten international für Aufsehen, als sie den Völkerbund aufforderten, ihnen die Unabhängigkeit zu gewähren.
Vorbildhaft wehrhaft
Auch diverse Hochstapler nutzten die Indianer-hausse jener Jahre, gaben sich als „Häuptlinge“aus und ließen sich hofieren. Fernweh, Sensationslust und Zivilisationsmüdigkeit feuerten die Begeisterung des Publikums für die Indianer an. Selbst Rassisten, Militaristen und überzeugte Nazis schwärmten für Indianer und andere indigene Völker. Dies wird vor dem Hintergrund erklärbar, dass sie ihnen einerseits als vorbildhaft wehrhaft und spartanischgenügsam erschienen, andererseits das Prinzip separierter und somit „reinrassiger“Ethnien verkörperten. Zudem sprachen aus deutscher Sicht historische Gründe für die Indianer: hatten sie doch stets gegen die Feinde des Reichs, gegen Briten, Franzosen und Amerikaner kämpfen müssen. In den 1920er- und 1930erjahren hatte der Karl-may-kult Hochkonjunktur, die der Meister nicht mehr persönlich genießen konnte. 1928 wurde das Karl-may-museum in seiner früheren Villa eingerichtet. Sicherlich hätte er den Besuch von echten Indianern als große Ehre empfunden. 1927 kam der Häuptling Black Corn nach Radebeul und besuchte das Grab des Autors, wo er eine Rede in der Sprache der Sioux hielt. Weitere Besuche folgten in den kommenden Jahren von Indianern, die vom Dresdner Zirkus Sarrasani angeheuert worden waren, etwa die Truppe um den Häuptling Strong Fox. Sie sorgte für einen Massenandrang Schaulustiger in Radebeul. Strong Fox ehrte Karl May, indem er am 17. Oktober 1937 an seinem Grab eine Hakenkreuzflagge und ein Sternenbanner niederlegte.
Bereits einige Jahre zuvor hatte der Zirkusartist Ernst Tobis alias Patty Frank auf dem Gelände der Villa Shatterhand ein spektakuläres Western-blockhaus errichtet. Tobis, der sich mit dem indianischen Kriegsnamen „Isto Maza“(Eisenarm) schmückte, legte den Grundstock für eine umfangreiche Sammlung mit ethnologischen Objekten, historischen Artefakten und Kunstwerken und amtierte als erster Direktor des Karl-may-museums. Als großer Karl-may-fan erwies sich auch der Münchner Maler Wilhelm Emil Eber alias „Hehaka Ska“(Weißer Elch), der 1923 am Münchner Hitlerputsch teilgenommen hatte. Von ihm stammen zahlreiche Kunstwerke in der Sammlung des Museums, z. B. die Gemälde „Black Wolf“(1925), „White Buffalo Man“(1929) und „Strong Fox“(1927). Einige Werke werden heute in der Schausammlung des Museums gezeigt, weitere befinden sich im Depot.
Eber stieg im „Dritten Reich“zum führenden Kriegsmaler und Ns-propagandisten auf, auch Hitler erwarb mehrere Werke von ihm. Einige Arbeiten von Eber befinden sich bis heute als Ns-propaganda-objekte in Beschlagnahme amerikanischer Institutionen. Ein anderer Indianerbegeisterter Künstler war der Bildhauer Vittorio Güttner, der zudem als Schauspieler im Film „Die Geier der Goldgruben“auftrat, einem 1920 im Isartal gedrehten Stummfilm-western. Im Karl-maymuseum steht eine seiner Winnetou-büsten aus bemaltem Gips. Frank, Eber und Güttner verband die Kameradschaft im Münchner Cowboy-club, dem ältesten Club dieser Art in Deutschland. Inspiriert wurde die Gründung durch die nach 1890 aufkommende Wild-westbegeisterung, als der berühmte amerikanische Bisonjäger und Entertainer William Frederick Cody alias „Buffalo Bill“während seiner Europatournee
auf der Münchner Theresienwiese auftrat.
Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde die Western- und Indianerbegeisterung durch Kinofilme, Fernsehen und Festivals neu entfacht. Werke von Karl May spielten dabei eine zentrale Rolle. Sowohl in Westdeutschland wie in der DDR wurden Western und Indianerfilme produziert, gedreht wurde z. T. in den spektakulären Karstlandschaften Jugoslawiens. In Westdeutschland zeichnete sich seit den 1950er-jahren auf breiter Front eine Hinwendung zur amerikanischen Massenkultur ab – neben Rockmusik, Musicals und Hollywoodfilmen fand auch Country-music zahlreiche Liebhaber. Das Genre „Country“bzw. „Western“bezog sich dabei nicht nur auf Bands und Sänger, sondern auf eine ganze Subkultur, einen Kleidungs- und Lebensstil. Ob Trucker, Harley-davidson-fahrer, Cowboystiefelträger oder Stammgast in Western-freizeitclubs – in der Bundesrepublik identifizierte man sich stark mit der Figur des Cowboys und seiner modernen Nachfahren.
Eine Form von Eskapismus
Anders in der DDR, wo die Sympathien eher auf der Seite der Indianer lagen. Karl May wurde allerdings von den kommunistischen Ideologen zeitweilig als „Faschist“und „Imperialist“gebrandmarkt. Trotzdem fand er unter den Ostdeutschen weiterhin viele Leser, und das Karl-may-museum durfte weiter bestehen. Auf höchster Ebene strebte die DDR im Rahmen ihrer antikolonialen und antiimperialistischen Ideologie strategische Bündnisse mit Vertretern nordamerikanischer Indianer-nationen an. So berichtete John Fire Lame Deer, Häuptling und „Wicasa Wakan“(Heiliger Mann) der Mnikowoju-lakota-indianer über seine Reise in ein – aus amerikanischer Sicht – exotisches Land, in die DDR: „Ich war 1982 zum ersten Mal in Europa, und zwar in Ostdeutschland. Zuhause hatten sie uns erzählt, wie schlecht der Kommunismus war. Die Leute dort wären arm und gemein, es wäre hässlich dort, und die Sonne würde nicht scheinen. Aber als wir da waren, schien die Sonne, und die Leute haben gelacht. Es war wie überall sonst auf der Welt. Da habe ich gemerkt, man erzählt uns Unsinn. Die Menschen in der DDR waren sehr offen für uns.“