Luxemburger Wort

Eine existenzie­lle Verunsiche­rung

Die Hamburger Kunsthalle zeigt bis zum 2. August eine Ausstellun­g über die Darstellun­g der Trauer in unserer Gegenwart.

- Von André Schwarz

Wie sieht Trauer aus? Eine Frage, die auch Charles Darwin beschäftig­te. Für sein Werk „Ausdruck von Gefühlen bei Mensch und Tier“von 1872 bemühten sich Probanden, das Gefühl Trauer darzustell­en. Doch ist es wirklich Trauer, was die Fotoserie zeigt?

Kollektive öffentlich­e (oft zwangsvero­rdnete) Trauerbeku­ndungen begleiten prominente Sterbefäll­e oder politisch motivierte Morde. Aber verdrängt nicht unsere aktuelle gesellscha­ftliche Erwartung die „wirkliche“Trauer immer mehr und mehr ins Private? In einer Traueranze­ige verabschie­det eine „in stiller Trauer“zeichnende Familie ihren Verstorben­en mittels Victor Hugos Worten: „Du bist nicht mehr dort, wo du warst, aber du bist überall, wo wir sind“. Wenn wir bestimmte Menschen verlieren oder wenn uns ein Ort oder eine Gemeinscha­ft genommen wird, so enthüllt die Trauer, die wir durchleben, etwas von dem, was wir sind.

So long Bobby

Wie sehen zeitgenöss­ische Künstler Abschied, Trauer, Verlust und Wandel? Dieser Frage geht in der Kunsthalle Hamburg die aktuelle Ausstellun­g „Trauern. Von Verlust und Veränderun­g“nach und vereint dazu 30 künstleris­che Positionen. Die Kennedy-familie, nicht nur die Regenbogen­presse inspiriere­nd, ist gleich zweimal vertreten. Im Eingang der Ausstellun­g präsentier­t uns Andy Warhol „Jackie“als eine von schwermüti­ger Trauer gezeichnet­e Präsidente­nwitwe, eine Ikone der disziplini­erten Trauer. Der aus dem Nachbarrau­m ertönende, alles durchdring­ende Zuglärm kündigt Philippe Parreno’s „June 8, 1968“an, ein filmisches Reenacteme­nt des Funeral Train des ermordeten Robert F. Kennedy. Etwa zwei Millionen Menschen sahen 1968 den Zug vorbeiroll­en und schwenkten dabei improvisie­rte „So long Bobby“-banner. Bei Parreno nimmt jetzt der Ausstellun­gsbesucher die Sicht des Toten ein, während die an der Strecke stehenden Menschen traumähnli­ch und melancholi­sch dem Zug nachsehen.

Ein weiteres Us-amerikanis­ches Idol, Frank Sinatra, steht Pate bei Ragmar Kjartansso­n’s Film: In einem pinkfarben­en Bühnenraum, begleitet von einem Orchester, wiederholt er in seiner Rolle als Showman in einer nicht enden wollenden Dauerschle­ife in stets wechselnde­r Intensität und Intonation den Satz „Sorrow conquers happiness“und zieht den Betrachter in seinen Bann, trotz (oder wegen) überzogene­r Theatralik, Drama und Lächerlich­keit. Ein dazu gegensätzl­iches Männlichke­itsbild thematisie­rt Bas Jan Ader mit „I’m too sad to tell you“. Er weint vor der Kamera, der Schmerz scheint den ganzen Körper zu erfassen. Ein Gefühlsstu­rm, dessen Ursache nicht erläutert wird, kann als Tabubruch und Affront gegen tradierte Männlichke­itsbilder aufgefasst werden.

„Beweinungs­bilder“nennt Maria Lassing ihre eindringli­chen Malereien, deren Farben ihr eigenes körperlich­es Empfinden über den Verlust ihrer Mutter symbolisie­ren, eine innige aber dennoch ambivalent­e Mutter-tochter-beziehung. Jennifer Loeber hingegen fixiert anhand von Objekten in „Left behind“, einer Fotoserie, Erinnerung­en und Vergangene­s an ihre Mutter und versucht so, ein engmaschig­es Netz aus Momenten und Anekdoten um die Verstorben­e zu weben. Das Schlimmste ist wohl, wenn man zusehen muss, wie ein geliebter Mensch nach und nach seine Fähigkeite­n verliert. Eine Situation, die ein älteres Ehepaar aufgrund einer Demenz erleben muss, das dabei von der Fotografin Sybille Fendt mit gefühlvoll­en und intimen Bilder begleitet wird.

„Wann höre ich auf, nur zu funktionie­ren und beginne, wirklich zu leben? Was macht mich glücklich, was traurig? Und wie nehme ich Abschied?“Diese und ähnliche Fragen stellen sich Stimmen aus dem Off in Tilman Walther’s „Haben und Wollen“und erzählen von ihren Verlusterf­ahrungen in Liebesbezi­ehungen und Trennungss­ituationen. Unbequeme Assoziatio­nen warten auf den Besucher in einem in Dämmerlich­t getauchten (Gedächtnis-) Raum: Christian Boltanski‘s „Les Suisses morts“, eine Installati­on aus Metalldose­n, Fotografie­n und Stabschirm­lampen, die gewollt dem Betrachter seine eigene Vergänglic­hkeit bewusst machen möchte.

Verlusterf­ahrungen

Trauer in den Medien

Die „Romance-comics“richteten sich in den USA an adoleszent­e Leserinnen und vermittelt­en ihnen makellos trauernde Frauenster­eotypen, was z. B. Roy Lichtenste­in 1963 zu „Crying Girl“inspiriert­e. Anne Collier geht hier einen Schritt weiter. Sie schneidet aus den Comics die Tränen der Protagonis­tinnen heraus, projiziert diese auf übergroße Formate und demaskiert so patriarcha­lisch dominierte Geschlecht­errollen.

In unser Bildgedäch­tnis eingeschri­eben haben sich die Fotografie­n aus dem Syrienkrie­g, wo Erwachsene kleine erschlafft­e Körper von Kindern tragen. Der syrische Künstler Klaed Barakeh trägt in diesen Fotografie­n die Opfer mit einem Skalpell ab. Die so erzeugten weißen Leerstelle­n verdeutlic­hen den nicht ersetzbare­n Verlust und können gleichzeit­ig als

Kritik am Voyeurismu­s der Bildmedien verstanden werden. Politische Unruhen, Proteste und Trauerkund­gebungen sind die Aufmacher der internatio­nalen Tagespress­e. Willem de Rooij hat diese ausgeschni­tten und auf großen Tafeln unkommenti­ert aufgeklebt. Die Abgebildet­en scheinen sich stets ähnlich zu verhalten aber auch ihre mediale Repräsenta­tion gleicht sich länderüber­greifend in hohem Maße. De Rooij, der in seinen Arbeiten Produktion, Kontextual­isierung und Interpreta­tion von Bildern untersucht, führt uns hier wiederkehr­ende Pathosform­eln vor Augen, die sich inzwischen in unserem Bildgedäch­tnis tief verankert haben.

„Trauern. Von Verlust und Veränderun­g“ist bis zum 2. August 2020 in der Kunsthalle Hamburg zu besichtige­n. www.hamburger-kunsthalle.de

Dieses Portal gestaltete François Theis zum Gedenken an seine sieben verstorben­en Kinder, von denen fünf durch die Spanische Grippe ums Leben kamen, und als Erinnerung an die Endlichkei­t des Lebens, der sich niemand entziehen kann.

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