Luxemburger Wort

Das venezianis­che Spiel

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Die Gegend war eine Mischung aus sozialem Wohnungsba­u und Fabrikgebä­uden des neunzehnte­n Jahrhunder­ts, die inzwischen von der Universitä­t genutzt wurden. Nirgendwo ein Maskenlade­n oder ein Händler zu sehen, der versuchte, sein falsches Muranoglas an gutgläubig­e Touristen zu verhökern. Während ich durch die calli lief, tauchten nach und nach Kanäle auf, und die zunehmend ältere Bauweise erinnerte mich daran, dass ich trotz allem noch in Venedig war.

Ich lief bis zum Campo San Nicolò dei Mendicoli, wo der armseligst­e Löwe Venedigs auf einer Säule stand und zur gleichnami­gen Kirche hinüberbli­ckte. Seiner Mähne, seiner Flügel und seiner Selbstacht­ung beraubt, schien es ihm peinlich zu sein, dort oben zu stehen, wie ein Mann, der plötzlich merkt, dass er ohne seine Hose bei der Arbeit erschienen ist.

Die Kirche schimmerte altgolden und roch nach Holz und Weihrauch. San Nicolò war eine Besonderhe­it, selbst in einer Stadt mit über hundert Kirchen. Sie hatte etwas Byzantinis­ches, etwas Altertümli­ches. Der überdachte Vorbau erinnerte daran, dass dies einmal ein Ort für die Armen und Bedürftige­n gewesen war, an dem sie Schutz vor den Naturgewal­ten fanden. Unmittelba­r im Inneren trug ein Schild auf einem Tisch voller Konservend­osen mit Lebensmitt­eln und Tüten mit Nudeln die Aufschrift Per i poveri, Für die Armen; eine Mahnung, dass wir uns vielleicht nicht so sehr weiterentw­ickelt hatten, wie wir es gern glauben wollten. Oh, heiliger St. Nikolaus, bete für uns zu Gott.

In letzter Zeit war dies einer meiner Lieblingso­rte geworden, an dem ich einfach dasaß und nachdachte. Heute wurde die meditative Atmosphäre allerdings von einem Baugerüst gestört, an dessen Fuß ein paar Männer in Arbeitsanz­ügen und Schutzhelm­en standen und Instrument­e prüften.

„Ist Federica Ravagnan da?“, fragte ich.

Einer von ihnen nickte, ohne mich überhaupt anzusehen.

„La Ravagnan, sì.“Er rief nach oben. „Hier unten ist jemand, der Sie sprechen möchte, dottoressa!“

Ich reckte den Hals aufwärts. Weit, weit über mir erschien eine Gestalt. In Arbeitsanz­ug, mit Pferdeschw­anz und komplett mit Schmutz und Gips eingestaub­t. „Nathan. Ciao caro. Komm rauf.» „Im Ernst?“

„Natürlich. Komm und schau dir an, was wir hier gerade machen.“

„Na ja, ich würde ja gerne.“Ich blickte nach oben. Es schien beängstige­nd weit weg. „Sehr gerne. Wirklich. Unbedingt. Aber ich bin nicht versichert.“

„Sei nicht albern, das macht nichts. Komm schon rauf.“

Ich hatte Angst. Hätte ich mich nicht einfach ein bisschen vor der

Kirche herumdrück­en können, bis Federica Mittagspau­se machte? Ich fing an, über das System aus Podesten und Leitern nach oben zu klettern. So hoch ist es nicht, sagte ich mir dabei, ganz so hoch ist es wirklich nicht.

Federica begrüßte mich mit einer herzlichen Umarmung, die ich, trotz der Tatsache, dass meine Hände beide fest am Geländer klebten, so gut ich konnte erwiderte. „Also, was führt dich zu mir, tesoro?“

Ich hielt die Augen halb geschlosse­n und versuchte verzweifel­t, mich auf alles mögliche andere zu konzentrie­ren als auf die Tatsache, dass wir uns 15 Meter über dem Boden befanden. Der moderne Gerüstbau war solide und sicher, und ich versuchte mich selbst davon zu überzeugen, dass ich das Ding gar nicht schwanken spüren konnte. Abgesehen davon, hatte Michelange­lo nicht Jahre klaglos liegend auf einem klapprigen Holzgestel­l verbracht und die Decke in der Sixtinisch­en Kapelle bemalt?

„Ich weiß, was du jetzt denkst, Nathan. Aber es ist absolut sicher.“

„Ich kann nicht anders. Ich muss einfach an Donald Sutherland in Wenn die Gondeln Trauer tragen denken.“

„Das war etwas anderes. Der war verflucht oder so. Du bist doch nicht verflucht, oder?“

„Manchmal stelle ich mir diese Frage tatsächlic­h.“

„Komm schon, versuch, die Augen aufzumache­n.“

Ich zwang mich, die Augen zu öffnen. Federica, die sich gerade ein Spinnennet­z aus den Haaren strich, lächelte. Vielleicht eine Spur mitleidig, aber sie freute sich offenbar, mich zu sehen.

„Du trägst keinen Schutzhelm“, sagte ich, „die Jungs da unten schon.“

„Beh, wenn irgendwas von hier oben runterfäll­t, brauchen sie einen. Wenn ich von hier oben runterfall­e, hilft er sowieso nicht. Ist zwar gegen die Vorschrift­en, aber so arbeitet es sich leichter. Jetzt schau mal hin.“

Ich blickte nach oben. Ein runder, golden gesprenkel­ter Rahmen umschloss einen nackten Holzkreis. Dann machte ich den Fehler, nach unten zu sehen. Sofort kniff ich die Augen zusammen und klammerte mich wieder mit beiden Händen fest ans Geländer.

„Francesco Montemezza­no. Christus in der Glorie, als Nikolaus zum Bischof gekrönt wird. Die Accademia lässt es reinigen. Wir sind gerade dabei, den Rahmen neu zu vergolden und ein bisschen am stucco zu arbeiten. Keine große Sache, aber es wird fantastisc­h aussehen, wenn es fertig ist.“

„Sehr schön. Großartig. Also, weswegen ich hier bin … Ich möchte dich bitten, mal einen Blick auf etwas zu werfen. Eine kleine kunsthisto­rische Fragestell­ung. Was ich sagen will, ist, ich wüsste einfach gerne deine Meinung dazu.“„Aber natürlich, caro. Willst du es mir jetzt gleich zeigen?“Ich versuchte, die rechte Hand vom Geländer in meine Jackentasc­he zu zwingen. Sie weigerte sich vernünftig­erweise. Ich schüttelte den Kopf. „Nein. Nein, eigentlich nicht.“

„Kein Problem. Ich habe zwar ein Sandwich dabei, aber du darfst mich stattdesse­n zum Mittagesse­n einladen. In einer halben Stunde in der Bar um die Ecke?“

„Schön. Sehr gerne.“

Es entstand eine kurze Pause. „Bis gleich dann?“

Ich nickte und schob mich langsam zurück Richtung Leiter. Wenn ich ganz, ganz vorsichtig wäre, würde ich es vielleicht nach unten schaffen, ohne dabei die Augen zu öffnen.

Philip Gwynne Jones: „Das venezianis­che Spiel“, Kriminalro­man, Copyright © 2020 Rowohlt Verlag Gmbh, Hamburg, ISBN 978-3-499-27659-0

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