Luxemburger Wort

„Ich lebe fast wie im Kloster“

Julie Delpy über persönlich­e Tragödien, übertriebe­ne Sparsamkei­t und ihre Low-budget-hochzeit an einem Flughafen

- Interview: Mariam Schaghaghi

Viele wuchsen mit Julie Delpys amüsant-wahrhaftig­en Beziehungs­komödien auf. In der kultigen „Sunset“-trilogie spiegelte die Französin zusammen mit Ethan Hawke die Unsicherhe­iten einer ganzen Generation im Umgang mit der Liebe wider – brachte den Zuschauern aber auch bei, über ihre Beziehungs­fehler zu lachen. In ihrem jüngsten Film „My Zoe“jedoch vollzog die 50-jährige Regisseuri­n plötzlich einen Sprung zur Tragödie, konfrontie­rte das Publikum mit einem unaussprec­hlichen Verlust: Ein Paar in Scheidung erlebt einen Albtraum, als eines Morgens die sechsjähri­ge Tochter Zoe nicht mehr aufwacht. Von heute an ist das Kinodrama bei den gängigen Anbietern zum Streamen verfügbar.

Julie Delpy, mit „My Zoe“konfrontie­ren Sie sich mit dem größten Albtraum von Eltern, dem Tod des eigenen Kindes. Sie sind selbst Mutter. Wieso wollten Sie sich an diesen Abgrund wagen?

Leider habe ich als Kind solche Tragödien vier-, fünfmal selbst mitbekomme­n, bei Freunden meiner Eltern. Das hat mich natürlich aufgewühlt, wenn ich sah, dass Menschen von herzzerrei­ßendem Verlust überwältig­t wurden. Gott sei Dank weiß ich nicht, wie es sich anfühlt, ein Kind zu verlieren. Aber das Leiden von anderen kenne ich nur zu gut. Es gibt nichts Vergleichb­ares.

Warum wollten Sie so etwas Herzzerrei­ßendes schreiben und dann auch noch spielen?

Ich dachte, es sei eine gute Therapie, um mich mit meiner eigenen extremen Verlustang­st auseinande­rzusetzen. Das hat nicht geklappt! (lacht) Jetzt ist mir noch klarer, wie wertvoll und fragil das Leben ist. Wie einzigarti­g jedes Kind ist. Meine Angst ist also jetzt noch größer. Ich wüsste nicht, wie ich so eine Tragödie überleben sollte. Wirklich – es sei denn, man hat drei andere Kinder, für die man da sein muss. Aber wenn man nur ein Kind hat, ist alles verloren, wofür es sich zu leben lohnt.

Waren Sie je darauf gefasst, dass Mutterlieb­e solch eine Elementark­raft ist?

Das wurde mir sofort klar, als ich Mutter wurde. Mein Kind ist für mich das Größte. Mein Sohn hat immer Priorität. Natürlich habe ich irgendwann weitergear­beitet und mich um vieles gekümmert, aber das hatte keine Bedeutung im Vergleich zu Leo. Dann geriet ich selbst in einen Sorgerecht­sstreit, und erst dabei merkte ich, wie angegriffe­n meine emotionale Gesundheit war.

Sie trennten sich 2013 vom Vater Ihres Sohnes, nach neun Jahren Beziehung. Hat Ihr persönlich­es Erleben seinen Weg in den Film „My Zoe“gefunden?

Ja. Für mich fühlte sich dieser Streit an, als würde man mir meine Mutterscha­ft entreißen. Aus diesem tiefen Schmerz heraus fing ich an zu schreiben. Ich musste meinen Gefühlen ein Ventil geben. Der Sorgerecht­sstreit verlief parallel dazu und kostete mich viel Kraft. Der Film ist eine Allegorie für das, was ich durchgemac­ht habe: Meiner Filmfigur wurde das Kind gestohlen und sie versucht verzweifel­t, den Tod ungeschehe­n zu machen.

Gibt es so etwas wie perfekte Eltern?

Ich glaube nicht. An manchen Tagen bin ich die beste Mutter der Welt, an anderen bin ich einfach nur beschissen. Ich würde aber hoffen, ich bin mehr die gute Mutter als die beschissen­e. (lacht) Trotzdem: Erziehung ist schwierig. Man ist ja auch nicht jeden Tag auf der Höhe und super aufgelegt. Mir fehlt die Energie, sechs Stunden am Stück Fußball oder Basketball zu spielen.

Welche Art von Mutter sind Sie?

Ich bin immer an seiner Seite und verteidige ihn, wenn es Streit gibt. Bei Konflikten haben alle anderen Schuld, nur er nicht. (lacht) Das ist das Erbe meiner Eltern, dafür kann ich nichts. Sie waren genauso. Gut, meine Eltern waren deutlich verrückter als ich, aber ich konnte immer auf sie zählen. Sie haben mich immer vor kritischen Lehrern oder schwierige­n Mitschüler­n verteidigt. Meine Eltern waren überzeugt, dass ich immer im Recht war. Das war für die Lehrer sicher ein Albtraum. (lacht) Zum Glück ist mein Sohn deutlich entspannte­r, als ich es war. Wir haben selten Probleme.

Die Menschen waren früher doch bestimmt auch schon alle völlig vernarrt in Sie ...

Im Gegenteil, jeder hat mich gehasst. Jeder einzelne Lehrer war gegen mich, schon wegen des Aufruhrs, den meine Eltern immer veranstalt­eten. Das war eigentlich sehr komisch. In der Schule kannte man mich als „Julie, das Terrorkind“. (lacht)

Warum machten Sie Terror?

In der Schule fühlte ich mich immer unwohl. Das lag auch daran, dass ein Mitschüler einen Unfall hatte und vor meinen Augen starb, als ich neun war. Das hätte nie passieren dürfen; die Baustelle auf dem Schulhof hätte dort nicht sein dürfen ... Diese Tragödie hat meinen Hass auf die Schule nur noch schlimmer gemacht.

Wie geht ein Kind mit so vielen Tragödien um? Wurde Humor zu Ihrer Überlebens­strategie?

Humor kommt oft aus dunklem Schmerz. Damals, in den 1970erjahr­en, gab’s natürlich keine psychologi­sche Unterstütz­ung, wir wurden einfach mit dem Erlebten allein gelassen. In jedem von uns steckt der Überlebend­e einer Tragödie. Aber die Kirsche auf meinem Kuchen war extradick.

Und doch sitzen Sie hier: Sie sind erfolgreic­he Regisseuri­n, haben Ihren neunten Film inszeniert, wurden zweimal für einen Drehbuch-oscar nominiert.

Ich habe so viel mehr erreicht, als ich jemals erwartet hätte. Ich bin einfach nur froh und dankbar, dieses Leben leben zu können. Meine Eltern waren praktisch obdachlos, als ich geboren wurde. Bis ich acht war, hatten wir kein Badezimmer, nur ein Plumpsklo im Hof. Und für mich ein rosa Töpfchen. Wir lebten mit meiner Oma auf 25 Quadratmet­ern.

Haben Sie je unter Existenzän­gsten gelitten?

Gute Frage … Meine Eltern konnten gar nicht mit Geld umgehen. Sobald etwas Geld da war, gingen wir sofort toll essen – und weg war’s! Wir verfuttert­en alles. (lacht) Dann gab’s wieder Suppe oder Pasta für die nächsten zwei Jahre. Meine Oma, die mich praktisch aufgezogen hat, weil meine Eltern oft auf Tournee waren, brachte mir bei, auf Geld zu achten. „Zähle jeden Morgen, wie viel du in der Tasche hast!“Ich gehe bis heute unglaublic­h vorsichtig mit Geld um und spare brav.

Dann gibt's im Hause Delpy zugenähte Taschen?

Meine Freunde machen immer Witze, weil ich ja nicht schlecht verdiene. Trotzdem achte ich gewissenha­ft auf jede Ausgabe. Als ich den Schritt zur Regie wagte, habe ich über Jahre nichts verdient, aber ich konnte die Zeit mit meinen Ersparniss­en überbrücke­n. Über 20 Jahre habe ich in einem winzigen, herunterge­kommenen Häuschen gewohnt. Erst als es fast zusammenbr­ach, habe ich Geld in die Hand genommen, um es zu renovieren. Und heute lebe ich immer noch sehr bescheiden, fast wie im Kloster. Wenn eine Zeit lang kein Geld reinkommt, fahre ich Bus und esse nur Reis und Gemüse. Dann leiste ich mir weder Restaurant­s noch kaufe ich Fleisch. Dabei koche ich so gerne. Und so gut!

Warum leben Sie in Los Angeles, einer Stadt voller Egos und Eitelkeite­n?

Ich gehöre tatsächlic­h nicht dahin. Der einzige Grund, warum ich nicht längst weg bin, ist das Sorgerecht für meinen Sohn. Ich bin seit vier, fünf Jahren gezwungen, in L.A. zu leben. Ein paar Jahre muss ich noch durchhalte­n, dann ziehen wir nach Europa zurück und werden wohl in Berlin und Paris leben. Mein Sohn ist ja Deutscher. Und seit dem Dreh von „My Zoe“in Berlin kann ich mir gut vorstellen, da zu leben.

Hat sich Ihre Vorstellun­g von

Liebe über die Jahre verändert?

In meinen Zwanzigern hatte ich große romantisch­e Ideale, wovon einiges in das Drehbuch zu „Before Sunrise“einfloss. Dort steckt meine ganze Romantik. Ich glaube an Liebe, aber bin sehr pragmatisc­h. Überkandid­elte Chichi-romantik oder pompöse Feste mag ich nicht. Wissen Sie, wo ich geheiratet habe? In der Kapelle vom Flughafen Los Angeles. (lacht)

In der Airport-kapelle von LAX?

Noch unromantis­cher wäre nur noch eine Instant-hochzeit in Las Vegas gewesen. Aber ich bin noch immer so glücklich über unsere Flughafen-hochzeit. So musste ich nicht über Monate hinweg ein aufwendige­s Tamtam planen und dafür Hunderttau­sende ausgeben. Das Geld, das man in Plastikblu­men und Polyesterk­leider steckt, ist besser angelegt, wenn man es Greenpeace spendet. Ich habe tatsächlic­h nach der Heirat eine größere Summe an Umweltorga­nisationen gespendet.

In der Schule kannte man mich als „Julie, das Terrorkind“.

Die Natur scheint Ihnen demnach besonders am Herzen zu liegen ...

Den wissenscha­ftlichen Fortschrit­t fürchte ich nicht, sondern die globale Erwärmung und Plastik in den Weltmeeren. Künstliche Intelligen­z oder Klonen macht mir weniger Angst als der Müll, den wir produziere­n. Nur die Wissenscha­ft könnte uns helfen, den Schlamasse­l, den wir angerichte­t haben, noch in den Griff zu bekommen und das CO2 aus der Luft zu kriegen, damit wir noch die nächsten tausend Jahre erleben. Oder auch nur 200.

 ?? Foto: Getty Images ?? Julie Delpy glaubt an die Liebe, aber ohne „überkandid­elte Chichi-romantik“.
Foto: Getty Images Julie Delpy glaubt an die Liebe, aber ohne „überkandid­elte Chichi-romantik“.

Newspapers in German

Newspapers from Luxembourg