Luxemburger Wort

Es für möglich halten

Deutsche Politik streitet nach neuem Missbrauch­sfall um härtere Strafen

- Von Cornelie Barthelme (Berlin)

Es gibt Menschen, die gewarnt haben. Einer von ihnen ist Matthias Katsch. Im Januar hatte das ZDF ihn eingeladen, und während die Deutschen ihren Frühstücks­kaffee tranken, forderte Katsch sie auf, sich mit dem sexuellen Missbrauch von Kindern zu beschäftig­en. Sie sollten endlich begreifen, was deren Vergewalti­gen wirklich sei: „Ein massives Problem“– und zwar der gesamten Gesellscha­ft.

Keine fünf Monate später ist klar: Katschs Appell ist verhallt. Im nordrhein-westfälisc­hen Münster hat die Polizei gerade wieder einen Mann festgenomm­en, der gemeinsam mit anderen einen fünf und einen zehn Jahre alten Jungen schwer sexuell missbrauch­t haben soll – in der Gartenlaub­e seiner Mutter, einer Erzieherin, die davon gewusst haben soll. Um den 27 Jahre alten It-techniker spannte sich ein Netzwerk weiterer Kinderschä­nder über die Republik; elf insgesamt wurden festgenomm­en, sieben sind in Untersuchu­ngshaft – einer lebt im brandenbur­gischen 5 000-Einwohnerd­orf Finowfurt. Als die Verhaftung des 42 Jahre alten Familienva­ters bekannt wird, sagt Bürgermeis­ter Wilhelm Westerkamp: „Von solch schrecklic­hen Taten liest man ja sonst nur in der Zeitung.“Und dass der Verdächtig­e „aber kein Alteingese­ssener“ist.

Keine zwei Wochen zuvor hat der Hamburger Rechtsanwa­lt Rudolf von Bracken der Wochenzeit­ung „Die Zeit“gesagt: „Die Gesellscha­ft will sich mit den harten Themen nicht beschäftig­en, um die es hier geht: Gewalt, Missbrauch, manchmal sogar Menschenha­ndel und Kinderporn­ografie.“Von Bracken nennt seine Kanzlei auch „Büro für Kinderrech­te und Opferschut­z“, und für die vom Bundestag initiierte „Unabhängig­e Kommission zur Aufarbeitu­ng sexuellen Kindesmiss­brauchs“hört er Opfer an. Er ist sicher, dass Gesellscha­ft und Behörden die Chance nicht nutzen, die sie hätten, Kindesmiss­brauch zu verhindern. „Die Wahrheit“, sagt von Bracken, „die liegt bei den Kindern. Und wenn Kinder nichts sagen, dann sagen sie damit auch etwas.“

Ein Jahr bis zum Entschlüss­eln

Ob die Vergewalti­gungen im Gartenhaus in Münster – von denen die Täter, so der leitende Ermittler, Kriminalha­uptkommiss­ar Joachim Poll, „unfassbare Bilder“filmten – hätten verhindert werden können, werden eventuell die Strafverfa­hren zeigen. Zwar geriet der It-techniker schon im April 2019 unter Verdacht, die Polizei durchsucht­e seine Wohnung und beschlagna­hmte Laptops und Datenträge­r. Aber dann brauchte sie ein Jahr zum Entschlüss­eln. Der Mann hatte sein berufliche­s Können auch für seine kriminelle­n Aktivitäte­n genutzt. Die Kommunikat­ion mit den anderen Verdächtig­en des Netzwerks lief über ebenfalls verschlüss­elte Smartphone­s. Der Vorsitzend­e des Bundes Deutscher Kriminalbe­amter, Sebastian Fiedler, kommentier­t das mit dem Hinweis, dass die Kripo „in einem solchen Fall“an ihre

Grenzen komme – und „ein Plus an Experten“brauche.

Fiedlers Chance auf Gehör könnte gerade größer sein denn je. Der dritte große Missbrauch­sfall nach Lügde und Bergisch-gladbach hat die Politik aufgeschre­ckt. Allerdings auch alte Reflexe geweckt. 2001 befand der damalige Bundeskanz­ler Gerhard Schröder (SPD), Erwachsene, die sich an Kindern vergingen, seien nicht therapierb­ar; also: „Wegschließ­en, und zwar für immer.“

Knapp zwanzig Jahre später lodert der Streit über Strafversc­härfungen erneut. Bundesjust­izminister­in Christine Lambrecht (SPD) hält die bislang vorgesehen­en maximal 15 Jahre Haft und Sicherungs­verwahrung für ausreichen­d und plädiert, ganz im Sinn von Ober-kriminalis­t Fiedler, dafür,

„konkret den Ermittlern mehr Möglichkei­ten zu geben und sie gut auszustatt­en“. Die Union fordert mehr Härte. „Wie Mord“will Nrw-innenminis­ter Herbert Reul (CDU) sexuellen Missbrauch geahndet sehen – und auch leichtere Fälle nicht mehr als Vergehen eingestuft, sondern als Verbrechen. „Wurscht“sei ihm, „ob das rechtssyst­ematisch richtig oder falsch ist“.

Mehr Ermittler, mehr Erfolge

Reul installier­t gerade in seinem Ministeriu­m ein eigenes Referat für den Kampf gegen Kindesmiss­brauch und Kinderporn­ografie. Empfohlen hat es die Stabsstell­e, die er als Reaktion auf den Missbrauch von Lügde gründete. Nicht nur er, auch die Polizei ist sicher: Weil seitdem in NRW die Ermittlung­skapazität vervierfac­ht worden ist, fliegen gerade dort gerade so viele Kinderschä­nder auf. Möglicherw­eise ist Reuls Konzept ein Schritt auf dem Weg, den der Unabhängig­e Missbrauch­sbeauftrag­te der Bundesregi­erung schon im Januar wies. Da mahnte Johannes Wilhelm Rörig: „Wir brauchen klare Ziele, verbindlic­he Maßnahmen und ausreichen­d Geld, um Missbrauch aufzudecke­n und Kinder endlich besser zu schützen.“

Bei der Prävention aber, die Rörig nun erneut einfordert – „auch sexueller Missbrauch hat pandemisch­e Ausmaße, es trifft jährlich Zehntausen­de von Kindern und erschütter­t damit die Grundfeste­n unserer Gesellscha­ft“– fehlt es. Sehr. Informatio­ns- und Beratungss­tellen wie „Zartbitter“in Köln kennen die Defizite: Die Jugendämte­r überlastet und unterbeset­zt, die Familienri­chter ohne Qualifizie­rungspflic­ht – und die Zusammenar­beit zwischen Behörden und Justiz klappt oft nicht. Außerdem wird sexueller Missbrauch gern als Unterschic­htenphänom­en missversta­nden.

Problem in allen Schichten

Dass vor zehn Jahren mit dem Berliner Canisius-kolleg der Missbrauch­sskandal der katholisch­en Kirche öffentlich wurde, hat gegen diesen Irrtum wenig vermocht. Dass im Karatevere­in in Eberswalde, wo der Verdächtig­e aus Finowfurt ab und an den Nachwuchs trainierte – nie allein, wie Vorsitzend­er Ralf Schulz betont, immer mit einem weiteren Übungsleit­er – jetzt Eltern ihre Kinder aus dem Training nehmen, belegt, was außer Anwalt von Bracken auch Missbrauch­sbeauftrag­ter Rörig sagt: Die Gesellscha­ft will von Kindesmiss­brauch nichts wissen. Sie liest von seinem Grauen gern in der Zeitung. Aber kommt er ihr nahe, schließt sie die Augen.

Matthias Katsch hat es erlebt. Er machte öffentlich, was ihm an Übergriffe­n und Misshandlu­ngen am Canisius-kolleg widerfuhr. Er hat ein Buch geschriebe­n mit dem Titel „Damit es aufhört“. Darin steht, alle müssten gegen den Kindesmiss­brauch kämpfen. Und „das Wichtigste und zugleich Banalste“dabei sei: „Wir müssen es für möglich halten.“

Wenn Kinder nichts sagen, dann sagen sie damit auch etwas.

Rechtsanwa­lt Rudolf von Bracken

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Foto: dpa Die Laube in einer Kleingarte­nanlage im nordrhein-westfälisc­hen Münster war einer der Tatorte des vermutlich­en Haupttäter­s des Missbrauch­sfalls.

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