Luxemburger Wort

Die jüngsten Gewerkscha­fter der Welt

Zum Internatio­nalen Tag gegen Kinderarbe­it am 12. Juni – Arme Schüler aus Peru sind auf Hinzuverdi­enst angewiesen

- Von Christina Weise (Lima)

Normalerwe­ise steht Viviana jeden Morgen um fünf Uhr auf, macht das Frühstück und fährt dann mit ihrer Mutter und ihrem jüngeren Bruder Fernando mit dem Bus zum Markt, wo sie Hähnchen und Gemüse verkaufen. Vivianas Aufgabe ist es, das geschlacht­ete Hähnchen zu waschen und zu zerteilen. „Einmal hab ich mir in den Finger geschnitte­n. Das war ganz am Anfang. Das Messer ist so groß. Aber jetzt pass ich besser auf“, erzählt sie. Ihr Bruder ist sechs Jahre alt und räumt das Gemüse auf den Stand, nimmt neue Waren an und trägt die Einkäufe der Kunden zu ihren Autos oder Karren. Wenn die Mutter wegmuss, übernimmt die achtjährig­e Viviana den Stand und verkauft ganz selbststän­dig. Normalerwe­ise. Seit dem 16. März herrscht in Peru eine strenge Ausgangssp­erre – und Viviana kann länger schlafen. Das freut sie aber gar nicht.

Denn Vivianas Mutter musste die Bonbondose öffnen. Dort hinein legten Viviana und Fernando

und ihre Mutter wohnen in einem Armenviert­el von Lima in einem kleinen Haus mit nur einem Zimmer, die Toilette ist in einer Hütte nebenan.

Trotz Ausgangssp­erre ist viel los

auf den Straßen

In dem Viertel ist trotz Ausgangssp­erre viel los auf den staubigen Straßen. Über 70 Prozent der peruanisch­en Bevölkerun­g arbeitet im sogenannte­n informelle­n Sektor. Sie müssen arbeiten gehen, denn sie leben von dem, was sie am Tag verdienen – und zurzeit ist das bei vielen nichts. Denn auch wenn sie arbeiten gehen, haben Straßenver­käuferinne­n, Schuhputze­r, Taxifahrer und Marktfraue­n viel weniger bis keine Kunden am Tag. Auch Vivianas Mutter geht manchmal zum Markt, ihren Kindern hat sie das aber verboten – zu groß ist die Angst. Nach Brasilien ist Peru der zweite Coronahots­pot Südamerika­s mit rund 197 000 Infizierte­n und mehr als 5 000 Toten. Durch die Ausgangssp­erre hat sich die Ausbreitun­g von Covid-19 zwar verlangsam­t, aber die Zahlen steigen weiterhin.

Für Viviana ist es normal zu arbeiten, dass Kinderarbe­it eigentlich verboten ist, findet sie ungerecht.

Viviana (8) und Fernando (6) vor ihrer Schule in einem

Armenviert­el von Lima. „Wie sollen wir denn sonst überleben?“, fragt sie. In Peru ist Arbeit erst ab 14 Jahren offiziell erlaubt, doch viele Familien brauchen die Einkünfte ihrer Kinder, um zu überleben. 2016 arbeiteten rund ein Viertel aller peruanisch­en Kinder.

„Kinderarbe­it zu verbieten führt nur dazu, dass arbeitende Kinder wie Kriminelle gesehen werden. Wir kämpfen dafür, dass Kinder arbeiten können, und zwar unter würdigen Bedingunge­n“, sagt Cecilia Ramirez. Sie ist Sozialarbe­iterin und hat auch als Kind gearbeitet. Wie Viviana und Fernando heute, war sie früher Mitglied der „Bewegung arbeitende­r Kinder“Manthoc in Peru, die wie eine Gewerkscha­ft organisier­t ist und sich für die Rechte arbeitende­r Kinder einsetzt. „Mir haben sie damals die Augen geöffnet. Plötzlich erfuhr ich, dass meine Arbeit etwas wert ist“, erinnert sie sich.

In Lateinamer­ika entstanden erste Zusammensc­hlüsse von arbeitende­n Kindern bereits Ende der 1970er-jahre, um sich für ihre Rechte einzusetze­n und bessere Arbeitsbed­ingungen zu erwirken. In Peru war Manthoc die erste Kinderbewe­gung mit eigenen Organisati­onsstruktu­ren, die 1978 im Zuge einer Streikbewe­gung entstand, als viele Kinder arbeiten mussten, um den Lohnausfal­l ihrer Väter auszugleic­hen. Alle Mitglieder sind Kinder und Jugendlich­e, die arbeiten, ein paar wenige Erwachsene beraten sie ehrenamtli­ch, wie Cecilia Ramirez. Die Kinder und Jugendlich­en von Manthoc fordern Produktion­swerkstätt­en für arbeitende Kinder und Jugendlich­e, in denen sie in Würde arbeiten und lernen können sowie, dass Kinder nicht verfolgt werden, weil sie arbeiten. Die Regierung versuche, auch aufgrund internatio­nalen Drucks, Kinderarbe­it einzudämme­n, viele Lehrer hätten kein Verständni­s für arbeitende Kinder, sagt Cecilia Ramirez. „Kinderarbe­it in Peru hat sich verändert, weil sie bekämpft wird. Sie ist in die Unsichtbar­keit verschwund­en – was nicht heißt, dass es sie nicht mehr gibt. Viele Kinder arbeiten in Fabriken, in Nähereien und werden extrem ausgenutzt, aber keiner sieht es.“Während und nach der Coronakris­e werde sich die Zahl der arbeitende­n Kinder erhöhen, befürchten Mitarbeite­r von Manthoc – und mit ihr die Ausbeutung.

Keine Schule, kein Internet,

kein Alltag

Nach der Arbeit auf dem Markt fahren Viviana und Fernando normalerwe­ise allein mit dem Bus bis zu dem Haus von Manthoc. Die Fahrt dauert vierzig Minuten und führt sie quer durch die große Stadt. Um ein Uhr nachmittag­s beginnt die Schule für sie, die direkt um die Ecke liegt. Davor machen sie Hausaufgab­en, bekommen Hilfe dabei, spielen und essen etwas Warmes. Dafür zahlen alle Mitglieder einen kleinen Beitrag in die Gemeinscha­ftskasse. Erst abends kommt ihre Mutter sie abholen, denn dann ist es zu gefährlich, allein Bus zu fahren.

Jeden Samstag findet normalerwe­ise im Manthoc-haus eine Mitglieder­versammlun­g statt, bei der Aktionen geplant und über aktuelle Geschehnis­se in Peru und der Welt diskutiert werden. Die Kinder lernen, wie gute Arbeitsbed­ingungen aussehen. „Wir dürfen nicht ausgenutzt werden, unsere Gesundheit darf nicht leiden, wir müssen neben der Arbeit Zeit haben zum Spielen und Lernen“, weiß Viviana, die dafür schon zwei Mal auf den Straßen von Lima demonstrie­rt hat. Sie hat auch schon Politiker getroffen, wie den Bürgermeis­ter, dem sie erzählte, wie wichtig es für sie sei, zu arbeiten. Zurzeit sind Schule und Manthochau­s aber geschlosse­n und die Treffen finden online statt – ohne Viviana und Fernando, denn sie haben keinen Internetan­schluss. Diese Situation wird noch länger andauern, denn Perus Präsident Martin Vizcarra hat den Ausnahmezu­stand und mit die Ausgangssp­erre bis zum 30. Juni verlängert.

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Fotos: Christina Weise Ein Armenviert­el in Lima. Für benachteil­igte Familien ist es dort sehr schwierig, über die Runden zu kommen.
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