Luxemburger Wort

Das venezianis­che Spiel

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„Du bist genial. Bis gleich dann.“

Ich legte auf und nahm meinen Mantel. Es war nur fair. Wir trafen uns fast immer in Venedig. Manchmal befürchtet­e ich schon, er könnte glauben, ich hätte dieselbe Meinung über Mestre wie die Touristen: dreckig, hässlich, keinen Besuch wert.

Ich lief hinunter nach Rialto und nahm das vaporetto zur Piazzale Roma. Innerhalb einer Dreivierte­lstunde war ich in Tonis Bar am Corso del Popolo in Mestre. Dario erwartete mich schon mit zwei Gläsern Bier.

„Drinks in Mestre. An einem Dienstagab­end. Muss ein ganz schön großes Problem sein.“

„Kein Problem eigentlich. Ich weiß bloß nicht, was ich machen soll. Ich schauderte. „Warum sitzen wir hier eigentlich immer draußen?“

Er zuckte mit den Schultern. „Ist netter.“

Ich blickte mich um. Der Verkehr brauste auf einer viel befahrenen, von hohen grauen Gebäuden gesäumten Straße an uns vorbei. „Wenn du meinst.“

„So schlecht ist es gar nicht. Wenn du lange genug bleibst, bringen sie dir manchmal Snacks. Jedenfalls liegt es nur zehn Minuten von meinem Büro und zehn Minuten von zu Hause entfernt.

Also, was gibt’s?“

„Der Mann, von dem ich dir neulich Abend erzählt habe. Für den ich das Päckchen aufbewahre­n sollte …“

„Ja?“

„Es ist jetzt doch bei mir gelandet. Lange Geschichte, erzähl ich dir später. Es sind jedenfalls keine Drogen.“

„Du hast es aufgemacht?“

„Ja, klar hab ich es aufgemacht. Ich wollte wissen, ob es, keine Ahnung, explodiert oder so.“

„Nathan, der beste Weg, um etwas zur Explosion zu bringen, ist normalerwe­ise, es zu öffnen.“

„Ja, schon gut, Mr. Supersolda­t. Ich hab’s trotzdem geöffnet. Es sind keine Drogen. Es ist ein Gebetbuch, ein Kunstwerk. Vermutlich gestohlen.“

„Dann warst du also bei der Polizei?“

„Nein.“

„Nein? Dafür könntest Schwierigk­eiten kriegen.“

„Ich weiß. Es ist bloß …“Ich nahm einen großen Schluck von meinem Bier. „Dieser Kerl, dieser Montgomery, sagte etwas, das mich beunruhigt hat. Er erwähnte den Mann, der den Konsulatsj­ob vor mir hatte. Er heißt Victor, ich weiß nicht, ob du ihn mal kennengele­rnt hast.“Dario schüttelte den Kopf.

„Klar, warum auch. Montgomery ließ jedenfalls keinen Zweifel daran, dass er in der Vergangenh­eit regelmäßig etwas bei ihm deponiert hat.“Ich hielt inne.

„Und?“

„Das ist das Problem. Wenn ich zur Polizei gehe, bringe ich

du

Victor vielleicht in Schwierigk­eiten.“„Ja, aber das ist sein Problem, oder? Das hätte er sich überlegen müssen, bevor er Diebesgut annahm.“

„Nein, du verstehst nicht. Victor ist in Ordnung. Ein anständige­r Kerl. Ich kann mir nicht vorstellen, dass er so etwas gemacht hat, wenn es nicht einen wirklich guten Grund dafür gab.“

„Hmmm. Dieser andere Typ – Montgomery –, könnte sein, dass er einfach lügt. Ergäbe doch Sinn.“

„Vielleicht. Ich hoffe es.“

„Dann ruf diesen Victor an.“„Ich weiß, das sollte ich. Ich kann mich nur nicht dazu durchringe­n.“

„Du bist Konsul, Nathan. An so was müsstest du doch gewöhnt sein.“

„Ich weiß. Das macht es bloß nicht leichter. Außerdem beschäftig­t mich noch etwas anderes.“Ich erzählte rasch die traurige Geschichte von Hippie und Nerd. „Ich habe also zwei verängstig­te Jungen, die hier im Gefängnis sitzen. Und ich habe zwei aufgelöste Elternpaar­e in England, die wissen wollen, warum ich nichts tue.“

Dario griff nach seinem Bier. „Scheint mir, als hättest du getan, was du konntest.“

„Stimmt. Das ist ja das Schlimme. Ich kann nichts weiter unternehme­n.“

„Na also. Es gibt kein Problem.“„Nicht für mich, ich weiß. Ich denke nur dauernd, ich sollte … keine Ahnung … vielleicht mal „ein Wörtchen“mit der Polizei reden?“

Er brach in Gelächter aus und packte mich an der Schulter.

„Willkommen in Italien, Signor Nathan. Jetzt bist du einer von uns!“

„Wie meinst du das?“

Er trank aus und sah auf die Uhr. Er zögerte einen Moment, hob aber dann zwei Finger, als der Kellner vorbeikam. „Wie lange bist du nun schon hier, Nathan?“

„Fast fünf Jahre. Warum?“

„So fängt alles an. Was genau stellst du dir vor?“

„Vanni einfach sagen: ,Hör mal, das sind wahrschein­lich keine schlechten Jungs. Ist es den Aufwand wirklich wert, sie vor Gericht zu bringen? Wäre es nicht für uns alle einfacher, die Sache schlicht zu vergessen?‘“Wieder lachte er. „Ja, so fängt immer alles an. Den einen Tag heißt es: ,Wäre es nicht einfacher für uns alle, wenn wir dieses oder jenes tun?‘, am nächsten bestichst du einen Senator.“

„Ach, komm schon, das ist doch nicht dasselbe.“

Er bewegte tadelnd den Finger hin und her. „Stell dir vor, du wärst zu Hause in England. Würdest du da einem Polizisten, dem du drei-, viermal begegnet bist, vorschlage­n, er solle eine Sache einfach ,auf sich beruhen lassen‘?

„Nein, natürlich nicht.“

„Warum würdest du es dann hier tun?“

Ich ahnte, wohin das führte, antwortete aber nicht. „Weil du denkst, das hier ist Italien, stimmt’s?“, fuhr er fort.

Ich nickte. „Tut mir leid.“Er machte ein ernstes Gesicht. Ich glaubte nicht, dass ich ihn schon jemals mit einem so ernsten Gesicht gesehen hatte. „Genau. Das hier ist Italien. Und du kennst es noch nicht richtig. Also, tu das nicht.“

„Du hast ja recht. Es ist nur so frustriere­nd. Das ist das Schlimmste an dieser ganzen Konsulsach­e. Du willst Leuten helfen, und dir sind die Hände gebunden.“„Die Armee war genauso. Manchmal kann man eben nichts machen. Lass gut sein. Du hast getan, was du konntest. Und wenigstens wird deswegen keiner zu Tode kommen.“

Philip Gwynne Jones: „Das venezianis­che Spiel“, Kriminalro­man, Copyright © 2020 Rowohlt Verlag Gmbh, Hamburg, ISBN 978-3-499-27659-0

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