„Das Laboratorium für Europa“
Patricia Creutz über die Bedeutung des Benelux-raums und die Auswirkungen der Corona-krise
Patricia Creutz (55) ist seit 2004 Abgeordnete im Parlament der Deutschsprachigen Gemeinschaft (DG) in Belgien und seit vergangenem Jahr Vizepräsidentin des Benelux-parlaments. Im Interview spricht sie über Grenzkontrollen zwischen den Benelux-staaten während der Corona-krise, belgische Atommülldeponien an der Grenze zu Luxemburg und ein basisdemokratisches Experiment in Eupen.
Patricia Creutz, während der Corona-krise kam es zu Grenzkontrollen zwischen Belgien und Luxemburg, wie sehr haben die zwischenstaatlichen Beziehungen darunter gelitten?
Ich kann nachvollziehen, dass die Staaten die Grenzen am Anfang der Krise als Vorsichtsmaßnahme geschlossen haben, aber die Öffnung hat zu lange gedauert. Das hat viele Menschen belastet, vor allem weil wir geschlossene Grenzen gar nicht mehr gewohnt sind. Es gab zudem einige überspitzte Kontrollen, bei denen Strafzettel ausgestellt wurden. Jetzt ist es wichtig, dass die Länder eine gemeinsame Exitstrategie wählen. Die DG hat sich stets für Grenzöffnungen eingesetzt, sowohl bei den Nachbarländern als auch in Belgien selbst. Für uns war nicht immer verständlich, warum der belgische Innenminister so daran festgehalten hat.
Sie haben die Strafzettel angesprochen, diese wurden vor allem an der Grenze zum Norden von Luxemburg ausgestellt. Gab es Kommunikationsprobleme zwischen der nationalen und der regionalen Polizei in Belgien?
Das lag daran, dass die Grenzen in erster Linie durch die föderale und nicht die lokale Polizei bewacht wurden. Es lag wohl aber auch teilweise an Unwissenheit, so haben Menschen Strafzettel bekommen, weil sie beim Spazieren im Wald die grüne Grenze überquert haben, ohne sich dessen überhaupt bewusst zu sein. Das hat zu viel Unmut geführt, hier hätte man mehr Wert auf Verhältnismäßigkeit legen sollen.
Hat es in Belgien auch Kontrollen an den Grenzen zu den anderen Nachbarländern gegeben?
Wir haben in Belgien mit einem Passierscheinsystem gearbeitet. Die Menschen konnten sich bei ihrer Gemeinde eine Bescheinigung ausstellen lassen, um zu ihrem Arbeitsplatz nach Deutschland oder in die Niederlande zu kommen, aber Aktivitäten wie Einkaufen oder die Fahrt zum Zweitwohnsitz ins Ausland waren nicht möglich. Es war wirklich eine Situation, die aufgearbeitet werden muss. Das werden wir auch im nächsten Halbjahr im Benelux-parlament tun. Benelux war immer das Laboratorium für Europa, in dem Dinge ausprobiert wurden. Diese hervorragende Zusammenarbeit stand durch die Maßnahmen einzelner Länder auf dem Prüfstand. Deswegen wäre es wichtig, jetzt eine gemeinsame Exitstrategie zu entwickeln. aber nur mit Disziplin und Eigenverantwortung.
Wie ist eigentlich die aktuelle Situation in der DG?
Wir hatten Tote in Altenheimen und in Krankenhäusern, aber man muss dazu sagen, dass in Belgien jeder Fall gezählt wird. Das hat auch zu Verwirrungen geführt. Es waren nicht immer nachgewiesene Fälle und es wurde stets gesagt „mit oder am Virus gestorben“. Das führte mit dazu, dass die Zahlen in Belgien plötzlich so explodiert sind. In der Nachbearbeitung muss man deswegen auch über mögliche Kriterien reden, die zukünftig angewendet werden.
An diesem Freitag (gestern, Anm. der Red.) beschäftigte sich das Parlament neben der Sicherheit auch mit dem Kampf gegen Rassismus in Fußballstadien. Wie präsent ist dieses Phänomen im Benelux-raum?
Das Thema ist überall präsent und wird sehr ernst genommen. Wir haben uns mehrere Stadien angeschaut, beispielsweise in Lille und Dortmund und festgestellt, dass man unterschiedlich damit umgeht. Einige sprechen ein absolutes Stadionverbot aus, andere sind etwas weniger streng. In Dortmund und auch im belgischen Fußball wird darüber hinaus eine hervorragende Fan- und Basisarbeit geleistet. In dieser Frage sollten wir erst den Experten zuhören und dann ein grenzüberschreitendes einheitliches Konzept ausarbeiten.
Sie setzen sich persönlich für eine gegenseitige Anerkennung der Diplome in den Benelux-staaten ein. Wie ist hier der aktuelle Stand?
Das Thema ist so ein bisschen mein Baby im Benelux, das vor einigen Jahren bei einer Konferenz in Eupen gestartet wurde. Wir haben gesagt, es kann doch nicht sein, dass Studenten Erasmus-semester machen und tolle Erfahrungen sammeln aber nicht sicher sind, dass ihre Leistungen nachher auch anerkannt werden und das trotz Bologna-prozess in Europa. Deswegen war es wichtig, dass die Benelux-länder hier den ersten Schritt gemacht und die automatische Anerkennung von Bachelor-, Master- und Doktordiplomen eingeführt haben. Jetzt müssen wir noch weiter gehen und dies auf die Berufsausbildung ausdehnen.
Vor einigen Wochen gab es Diskussionen um geplante Atommülllager an der belgisch-luxemburgischen Grenze. Die luxemburgische Umweltministerin Carole Dieschbourg (Déi Gréng) hatte sich beschwert, weil Luxemburg nicht informiert wurde, obwohl Erdschichten kontaminiert werden könnten, die zum Staatsgebiet des Großherzogtums gehören. Was sagen Sie zu dieser Kritik?
Ich kann den Unmut Luxemburgs und der Ministerin sehr gut nachvollziehen. Zahlreiche Gemeinden in der DG haben bereits Resolutionen zu dem Thema verabschiedet und auch unser Parlament wird das tun. Alle sind eiskalt erwischt worden und das zu einer Zeit, in der ein Versammlungsverbot bestand und keine Experten befragt werden konnten. Man hatte den Eindruck, dass davon profitiert werden sollte, um etwas durch die Hintertür durchzupeitschen. Ganz schlimm war auch, dass wir es aus der Presse erfahren haben. Dabei geht es um die Lebensqualität der Menschen.
In Eupen gibt es seit vergangenem Jahr einen Bürgerrat, dessen Mitglieder per Los bestimmt werden. Wie fällt die Zwischenbilanz aus?
Da hat Covid uns einen ganz fiesen Strich durch die Rechnung gemacht. Der Bürgerrat hat jüngst seine Agenda festgehalten, in der die Pflege im Allgemeinen eine wichtige Rolle spielt. Es geht jetzt darum, dass der Bürgerrat durch die Aktualität um Covid und einen möglichen Sonderausschuss nicht überrollt wird. Die Mitglieder sind auf jeden Fall hoch motiviert bei der Sache und für mich stellt der Rat einen Mehrwert dar. Deswegen ist es wichtig, dass die Politik dieses Engagement sehr ernst nimmt und der Institution nicht nur eine Alibifunktion einräumt, denn so kann man Menschen ganz schnell frustrieren.