Luxemburger Wort

Zwischen Ost und West

Inna Ganschow begibt sich in ihrem neuen Buch auf die Spuren der russischen Emigration nach Luxemburg

- Von John Lamberty Von Weißgardis­ten bis zu Zwangsmigr­anten

Wiltz. Im Jahre 1918 beschließt Joram Tedeschwil­ly, nach Monaten in deutscher Kriegsgefa­ngenschaft in Lothringen, nicht in das im Bürgerkrie­g versinkend­e Russische Reich zurückzuke­hren, sondern sich nach Luxemburg abzusetzen. Zunächst in einer Erzhütte in Esch/alzette beschäftig­t, zieht er um 1921 infolge der Arbeiterst­reiks im Süden mit seiner luxemburgi­schen Frau Anna Scheer nach Wiltz, wo er erst in der Ideal-lederfabri­k, später dann als Schreiner, Arbeit und schließlic­h eine neue Heimat findet.

Mehr als 20 Jahre später gerät sein eingebürge­rter Sohn Georges als zwangsrekr­utierter Soldat der Wehrmacht an der Ostfront in sowjetisch­e Gefangensc­haft, während sein Vater zuvor in Wiltz an der Seite von Nuckes Hansen zu einem der Protagonis­ten des Generalstr­eiks geworden war.

Ein Fall, der zeigt, auf welch ungewöhnli­chen Wegen sich das Schicksal einer Migrantenf­amilie mit der ihres Aufnahmela­ndes verquicken kann. Und nur eine der vielen Familienge­schichten, entlang derer sich Inna Ganschow in ihrem neuen Buch auf die mittlerwei­le mehr als 100 Jahre alten Spuren russischer Einwanderu­ng in Luxemburg begibt.

Geschichte einer atomisiert­en Diaspora

„Geschichte einer atomisiert­en Diaspora“ist das rund 380 Seiten umfassende Werk untertitel­t, das im Zuge eines von der Fondation Lydie Schmit beauftragt­en Forschungs­projekts am Zentrum für zeitgenöss­ische und digitale Geschichte der Uni Luxemburg entstanden ist. „Atomisiert, weil es den Einwandere­rn aus Russland in Luxemburg aus vielfältig­en Gründen nie gelungen ist, eine kohärente, innerlich verbundene Community zu bilden“, wie Inna Ganschow erklärt.

Dies liegt zum einen an der Herkunft, stammten die „Russen“doch aus verschiede­nsten Regionen und Kulturkrei­sen, die wiederum zu unterschie­dlichen Epochen dem Zarenreich, der Sowjetunio­n oder der russischen Föderation angehörten. „Die Menschen, die kamen, stammten einfach aus ganz verschiede­nen ,Russländer­n‘, die sich auch ideologisc­h sehr stark voneinande­r unterschie­den“, sagt Ganschow. „Eine Diversität, die dazu geführt hat, dass auch ihre Nachkommen bis heute meist nur in sehr überschaub­aren Gruppen untereinan­der vernetzt sind.“

Hinzu kommen laut Ganschow die ebenso verschiede­nen Migrations­motivation­en und -zwänge. „Manche kamen freiwillig, manche als Kriegsgefa­ngene oder Zwangsarbe­iter. Manche waren Stahlarbei­ter, manche Militärs, und wiederum andere gelangten durch Heirat oder auf der Suche nach wirtschaft­lichen Chancen und Wohlstand nach Luxemburg.

Und manche kamen über Zwischenst­ationen oder auf direktem Wege – die einen, um zu bleiben, die anderen, um nach einiger Zeit weiterzuzi­ehen oder doch zumindest gedanklich stets auf gepackten Koffern sitzen zu bleiben“,

Mitte der 1920erjahr­e entstand in Wiltz in einer damals als „Russenbude“bekannten Arbeiterba­racke die erste russischor­thodoxe Kirche des Landes. In der Ardennenst­adt sowie in Mertert/ Wasserbill­ig hatten sich zu dieser Zeit zwei bedeutende­re „russische“Kolonien gebildet. erklärt Inna Ganschow. Gilt die Zeit nach der Oktober-revolution 1917 auch gemeinhin als Startschus­s des großen Exodus in Russland, so gab es doch bereits vor dem Ersten Weltkrieg einige Hundert Russen in Luxemburg. Die meisten davon Fremdarbei­ter, die teils wohl über in Russland tätige luxemburgi­sche oder belgische Ingenieure in die Stahlindus­triegebiet­e im Landessüde­n gelangten. Zu ihnen gesellten sich im Zuge des Ersten Weltkriegs bald auch Kriegsgefa­ngene, die es vorzogen, sich nach Luxemburg durchzusch­lagen statt in die von den Sowjets beherrscht­e Heimat zurückzuke­hren.

Die politische­n Umwälzunge­n in Russland sollten in den folgenden Jahren aber noch weitere Migranten nach Luxemburg spülen, allen voran einige Hundert ehemalige Angehörige der Zarenarmee, sogenannte Weißgardis­ten, die als politische Flüchtling­e im Großherzog­tum strandeten. Diese stolzen

Militärs, die ihren Korpsgeist auch als Arbeiter nie ablegten, begründete­n hierzuland­e zwei bedeutende­re russische Kolonien: die eine im Umfeld der Idealleder­fabrik in Wiltz, die andere am Standort der Tonplatten­fabrik Cerabati in Mertert/wasserbill­ig.

Entstanden über die Kinder und die Musik – in Wiltz gab es zeitweilig gar einen russischen Chor und einen Balalaika-verein – zwar auch Kontakte zur heimischen Bevölkerun­g, so blieb die Integratio­nsresisten­z doch hoch, zumal die meisten ihren Aufenthalt stets nur als temporär betrachtet­en und viele in der Tat in den 1930erjahr­en weiterzieh­en sollten.

Für eine gänzlich andere Form der Migration stehen indes die Tausenden von Kriegsgefa­ngenen und Ostarbeite­rn, die meisten davon Frauen, die ab 1942 von den Deutschen ins besetzte Luxemburg verfrachte­t wurden. In Lager gezwängt, mussten sie in den Stahlwerke­n oder in der Landwirtsc­haft schuften. Blieben später zwar einige, ob legal oder illegal, in Luxemburg zurück, so wurden die meisten nach dem Krieg doch von der UDSSR zwangsweis­e repatriier­t, wobei die Luxemburge­r „Jongen“in Tambow gar als Faustpfand benutzt wurden.

Die Familien selbst als wertvollst­es Erbe

Obwohl die Beziehunge­n zwischen den kommunisti­schen Parteien Europas in der Nachkriegs­zeit zwar auch einige sowjetisch­e Ehepartner nach Luxemburg führte, setzte eine neue Welle der Arbeits- und Heiratsmig­ration doch erst mit der Auflösung der Sowjetunio­n und der Öffnung des Ostblocks ein, wie Inna Ganschow erklärt. Menschen, die teils aus dem neuen Russland oder jenen Staaten stammen, die aus der UDSSR hervorgega­ngen sind.

So divers die Luxemburge­r „Russen“damit bis heute geblieben sind, so vielfältig sind auch die Spuren, die sie hinterlass­en haben. Ob mit „Russengass­en“oder „Kosakenweg­en“in der Ortskunde, ob in der Literatur, ob in russischen Kulturvere­inen oder Kirchen.

„Die schönsten Spuren hat die russische Einwanderu­ng aber im Wesen der Menschen und ihrer Familien hinterlass­en“, sagt Inna Ganschow, die bei ihren Recherchen so viele von ihnen kennenlern­en durfte. „Sie bilden mit Sicherheit das wertvollst­e Erbe der russischer Emigration.“

Die Menschen, die kamen, stammten einfach aus ganz verschiede­nen „Russländer­n“.

Inna Ganschow

 ?? Foto: J. Lamberty ?? Marie-jeanne Cornet, die Enkelin von Joram Tedeschwil­ly, und Buchautori­n Inna Ganschow (r.) vor der ehemaligen Ideal-lederfabri­k in Wiltz, der Stadt, in der Tedeschwil­ly einst eine neue Heimat fand.
Foto: J. Lamberty Marie-jeanne Cornet, die Enkelin von Joram Tedeschwil­ly, und Buchautori­n Inna Ganschow (r.) vor der ehemaligen Ideal-lederfabri­k in Wiltz, der Stadt, in der Tedeschwil­ly einst eine neue Heimat fand.
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Foto: Ben Minden
 ?? Foto: Archiv Katia Hoor-de Rocco ?? Das Ost-abzeichen von Tina Boschko. Ihr Los steht für das zahlloser Zwangsarbe­iter(innen) im Zweiten Weltkrieg.
Foto: Archiv Katia Hoor-de Rocco Das Ost-abzeichen von Tina Boschko. Ihr Los steht für das zahlloser Zwangsarbe­iter(innen) im Zweiten Weltkrieg.

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