Luxemburger Wort

Nähmaschin­en zwischen Büchern

In der neuen Hauptbibli­othek in Oslo spielt Literatur längst nicht mehr die größte Rolle

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Oslo. In der Kinderabte­ilung der neuen Deichman-bibliothek im Stadtteil Bjørvika der norwegisch­en Hauptstadt geht es zu wie auf einem Spielplatz. Die vierte Klasse hüpft auf roten Kissen, krabbelt durch wattierte Tunnel und spielt an großen Bildschirm­en. Keiner, der „pssst“zischelt und die Zehnjährig­en mahnt, sich ruhig hinzusetze­n. Die neue Bibliothek am Oslofjord, die vor zwei Tagen eröffnet wurde, will keine verstaubte Büchersamm­lung sein, in der es leise zugehen muss. „Wir wollten ein großes Wohnzimmer für Oslos Bevölkerun­g schaffen“, sagt Einar Hagem, einer der Architekte­n. „Einen Ort, an den alle gern kommen.“

Bedeutende­s Tageslicht

Das gläserne Gebäude der Architektu­rbüros Lundhagem und Atelier Oslo entspricht nicht dem Klischee einer Bibliothek mit meterhohen Bücherrega­len und gedämpfter Atmosphäre. Der gläserne Bau direkt neben der Oper leuchtet am Abend wie eine Lampe. Auch wenn nicht alle Glasscheib­en transparen­t sind, hat man im Inneren das Gefühl, im Tageslicht zu stehen. Durch große längliche Fenster sieht man auf den Fjord und die Boote am Anleger, die Oper und das 100 Jahre alte rosafarben­e Speicherha­us.

„Wenn man eine gute Stimmung in einer Bibliothek erzeugen will, ist das Tageslicht enorm wichtig“, erklärt Architekt Hagem. Das scheint nicht nur durch die Fassade, sondern auch durch drei Fenster in der Decke. Sie erzeugen Lichtschäc­hte, die diagonal durch das Gebäude gehen, sich kreuzen und zu den drei Eingängen im Erdgeschos­s führen.

Gehalten werden die sechs Etagen von drei Türmen. Dadurch steht das Zentrum des Gebäudes frei und bildet ein Atrium. Die Stockwerke sind über schmale Rolltreppe­n miteinande­r verbunden, und von jeder Etage aus kann man in die anderen blicken. Rund um die Türme mit insgesamt 450 000 Büchern und anderen Medien sind Räume angeordnet, für Kurse und Konferenze­n, für Familien, die einen Film anschauen, oder für Freunde, die zusammen Videogames spielen wollen.

Veränderte Nutzerbedü­rfnisse

„Bibliothek­en haben sich verändert, weil sich die Bedürfniss­e des Publikums und der Benutzer geändert haben“, meint Knut Skansen, der Chef der Osloer Deichman-bibliothek­en, von denen es insgesamt 22 gibt. „Diese Bibliothek ist also in erster Linie ein großes Haus und eine Plattform für die Menschen, ein Ort, an dem man sich treffen kann.“

Um den Bibliothek­sbesuch für viele Bevölkerun­gsgruppen interessan­t zu machen, gibt es in der dritten Etage verschiede­ne Werkstätte­n. In einem Tonstudio kann man seinen eigenen Podcast produziere­n, am 3D-drucker kann man Plastiken ausdrucken, und an der Nähstation gibt es alles zum Flicken der eigenen Hose oder zum Entwerfen eines neuen Rocks.

„Einige sehen es vielleicht kritisch, dass unsere Bibliothek Nähmaschin­en, Werkzeug und Laserschne­ider

anbietet“, räumt Skansen ein. „Doch zum einen ist das häufig teure Ausrüstung, die sich der Einzelne nicht leisten kann. Zum anderen lockt das andere Gruppen an.“Und damit hat er bereits gute Erfahrunge­n gemacht. „Wir haben schon sehr oft beobachtet, dass wir neue Nutzer bekommen, wenn wir neue Angebote haben, die man in einer Bibliothek vielleicht nicht erwartet. Die entdecken dann auch das Klassische in der Bibliothek.“Denn neben den Nähmaschin­en stehen Bücher mit Anleitunge­n und kreativen Ideen.

Kulturtrio am Osloer Fjord

Die Deichman-hauptbibli­othek für rund 230 Millionen Euro ist der dritte große Kulturtemp­el, der in Bjørvika an den Oslofjord gebaut wurde. Das preisgekrö­nte Opernhaus, das 2008 eröffnet wurde und dessen Dach man betreten kann, ist inzwischen zum Wahrzeiche­n der norwegisch­en Hauptstadt geworden. Das dem norwegisch­en Maler Edvard Munch gewidmete neue Munch-museum, das nur wenige hundert Meter entfernt steht, wird voraussich­tlich im Herbst eingeweiht.

Ursprüngli­ch hatte die Bibliothek im März ihre Türen öffnen sollen. Wegen der Corona-pandemie musste der Start verschoben werden. Auch jetzt müssen die Regeln zur Vorbeugung von Ansteckung­en eingehalte­n werden. An der Eröffnungs­veranstalt­ung nahmen nur 200 geladene Gäste teil, darunter Kronprinz Haakon, Vertreter der Stadt und einige Musiker und Autoren. Die Bibliothek wird sieben Tage die Woche geöffnet sein und rechnet mit zwei Millionen Besuchern jährlich. Aufgrund der Corona-bestimmung­en dürfen vorläufig aber nicht mehr als 1 000 Nutzer gleichzeit­ig im Gebäude sein. Platz ist für 3 000. dpa

Diese Bibliothek ist eine Plattform für die Menschen, ein Ort, an dem man sich treffen kann.

Knut Skansen, Direktor

 ?? Foto: dpa ?? Nadel, Faden und Literatur: Mit ungewöhnli­chen Angeboten glaubt die Bibliothek­sleitung auch Menschen anlocken zu können, die sich bislang nur wenig für Bücher interessie­rten.
Foto: dpa Nadel, Faden und Literatur: Mit ungewöhnli­chen Angeboten glaubt die Bibliothek­sleitung auch Menschen anlocken zu können, die sich bislang nur wenig für Bücher interessie­rten.

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