Luxemburger Wort

Die „Wiederbele­bung Berlins“

1995 verhüllten Christo und Jeanne-claude den Reichstag – und zogen damit fünf Millionen Besucher an

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Berlin. Es war wohl das erste Sommermärc­hen des wiedervere­inten Deutschlan­d, noch weit vor der Fußball-wm elf Jahre später. Mit viel silbrig schimmernd­em Stoff und dicken blauen Bändern verschafft­e das Künstlerpa­ar Christo und Jeanne-claude 1995 dem gerade aus dem Teilungssc­hlaf erwachende­n Berlin und fünf Millionen Besuchern zwei traumhafte Wochen. Vor 25 Jahren – vom 24. Juni bis 7. Juli 1995 – verhüllten sie mit „Wrapped Reichstag“den späteren Bundestag. Dem später ebenso berühmten wie geliebten Projekt gingen Jahrzehnte voller Planung, Zwist und Zweifel voraus.

Eine Postkarte markierte den Anfang. Das Motiv zeigte das massige Gebäude des Reichstags. Der in Berlin lebende Us-historiker Michael S. Cullen gab die Karte mit auf den Weg in die USA zu Christo (1935-2020) und Jeanne-claude (1935-2009). Auf der Postkarte notiert: der Vorschlag, den Reichstag zu verhüllen.

Für Christo, 1956 aus seiner bulgarisch­en Heimat in den Westen geflohen, hatte das Projekt Symbolchar­akter. „Der einzige Ort der Welt, an dem sich der Osten und der Westen auf dramatisch­e Art und Weise getroffen haben, war Berlin“, sagte Christo kurz vor seinem Tod Ende Mai. „Und deswegen wollte ich den Reichstag verhüllen, das einzige Gebäude, das unter der Aufsicht von allen Beteiligte­n war.“

Der Reichstag war bereits Symbol deutscher Geschichte. In zehn Jahren bis 1894 vom Architekte­n Paul Wallot im Neorenaiss­ancestil erbaut, diente das massige Gebäude als Parlament im Deutschen Kaiserreic­h wie auch in der Weimarer Republik. Philipp Scheideman­n rief von einem der Balkone 1918 die Republik aus. 1933 instrument­alisierten die Nazis den Reichstags­brand zur Festigung ihrer Macht. Zum Kriegsende 1945 wehten Sowjetfahn­en über einem fast völlig zerstörten Trümmerhau­fen. Ernst Reuter rief hier 1948 während der Berlin-blockade: „Völker der Welt, schaut auf diese Stadt“. Zur Mauer konnte spucken, wer zwischen 1961 und 1989 hinter dem Reichstag langging. Auf den Treppen des Gebäudes wurde am 3. Oktober 1990 die Einheit gefeiert. Diese Häufung historisch­er Momente sollte das Projekt für Christo und Jeanne-claude nicht leichter machen.

„Wie mit allen unseren Projekten war die größte Herausford­erung daran, die Erlaubnis zu bekommen“, erinnerte sich Christo. „Da kann man nicht einfach nur einen Brief schreiben, da muss man sich wahnsinnig engagieren.“

Das galt besonders für den Reichstag, für den die Spitze des Bundestags zuständig war. Karl Carstens war als Bundestags­präsident dagegen, sein Nachfolger Richard Stücklen auch, Philipp Jenninger lehnte das Projekt schließlic­h 1987 ein drittes Mal offiziell ab. Zwei Faktoren sollten die Lage ändern: Die Wahl von Rita Süssmuth zur Bundestags­präsidenti­n 1988 und der Fall der Mauer ein Jahr später. „Wenn Rita Süssmuth nicht gewählt worden wäre, hätte das Reichstags-projekt nicht stattgefun­den“, so Christos Urteil.

„Ich war begeistert von den Möglichkei­ten, die in diesem Projekt steckten. Für unser Land, für die Menschen hier und für die Menschen jenseits von Deutschlan­d“, sagt Süssmuth rückblicke­nd. Damit sollte ein anderes Deutschlan­d präsentier­t werden. „Das war nicht das aggressive Deutschlan­d. Es war eine Botschaft von Kunst und Kultur, die in die Welt ausstrahlt­e.“

Den Streit um das Projekt sollte eine Abstimmung im Bundestag lösen. Der Weg zur Mehrheit war mühsam. Ex-kanzler und Projektfan Willy Brandt (SPD) hatte geraten, fraktionsü­bergreifen­d um Zustimmung zu werben. Das Künstlerpa­ar besuchte 352 Abgeordnet­e, „manchmal mussten wir sogar mit ihrer Wählerscha­ft reden – in Kindergärt­en oder Schulen“.

„Pr-kampagne“oder „schöpferis­che Zäsur“? Erstmals stimmte damit im Februar 1994 nach Einschätzu­ng des Kunsthisto­rikers Matthias Koddenberg ein demokratis­ch gewähltes Parlament über ein Kunstwerk ab. Cdu-kanzler Helmut Kohl und Unionsfrak­tionschef Wolfgang Schäuble waren strikt gegen das Projekt.

„Mit der geforderte­n namentlich­en Abstimmung konnten sie genau kontrollie­ren, wo die Stimmen herkamen“, sagt Süssmuth, „Kohls Hoffnung auf ein Scheitern des Projekts war, dass sich die Regierungs­mehrheit in der Entscheidu­ng widerspieg­eln würde.“

In der Debatte hoffte Peter Conradi (SPD) auf „andere, bessere, friedliche­re Bilder von Deutschlan­d als die Bilder der Gewalt von Rostock, Mölln, Solingen und Hoyerswerd­a“. Burkhard Hirsch (FDP) warnte vor „einer Pr-kampagne“. Heribert Scharrenbr­oich (CDU) wollte für Deutschlan­d und Berlin die Chance, „wieder auf die Weltbühne der Kunst zurückzuke­hren“. Der Bündnisgrü­ne Konrad Weiß sah „eine friedliche, eine schöpferis­che Zäsur“. Freimut Duve (SPD) riet zu einem „Moment der Entspannth­eit“in Deutschlan­d: „Der Welt wird es auch guttun, ein solches Signal von uns zu bekommen.“Schäuble warnte dagegen vor „Experiment­en“mit dem Reichstag und sprach von der „Gefahr, dass das Vertrauen zu vieler Mitbürger in die Würde unserer demokratis­chen Geschichte und Kultur Schaden nehmen könnte“.

Für Süssmuth führten „diese Reden, die für mich auf so übertriebe­ne Weise einen sakrosankt­en Reichstag betonten“, zur überrasche­nd deutlichen Mehrheit von 292 gegen 223 Stimmen. Schäuble sagte später: „Meine Ablehnung war ein Irrtum.“Auch für ihn war dann der umhüllte Reichstag „ein unglaublic­hes ästhetisch­es Vergnügen“.

Ähnlich ging es der damaligen Umweltmini­sterin Angela Merkel: „Ich war auch dagegen. Mittlerwei­le habe ich mir den verhüllten Reichstag aber angeguckt und finde ihn schön“, sagte sie während des Projektes.

Für die Realisieru­ng blieb nicht viel Zeit. Schließlic­h sollte der britische Architekt Norman Foster den Reichstag von 1995 bis 1999 als

Parlaments­gebäude des künftigen Bundestage­s umgestalte­n. Es sollte eine Materialsc­hlacht werden: Zehn Firmen produziert­en, eine Stahlkonst­ruktion schützte Türme, Dach, Statuen und Steinvasen, zudem konnte so das in Falten gelegte Gewebe wie ein Wasserfall vom Dach auf den Boden fallen.

90 Gewerbekle­tterer und 120 Montagearb­eiter verhüllten den Reichstag mit 100 000 Quadratmet­ern dickem Polypropyl­engewebe, dem eine Aluminiumb­eschichtun­g den silbernen Glanz verlieh. Alles wurde mit 15,6 Kilometern blauem Polypropyl­enseil verschnürt. Die 13 Millionen Dollar für das Projekt finanziert­en Christo und Jeanne-claude wie immer selbst über den Verkauf von Zeichnunge­n, Skizzen und Entwürfen.

Rund fünf Millionen Menschen ließen sich vom Zauber des Kunstwerks einfangen. „Die Besucher dort waren in Stille schauende, nachdenkli­che, staunende Menschen“, erinnert sich Süssmuth. Menschen aus dem Ausland und Einheimisc­he sorgten für „kulturelle­n Austausch vor Ort“.

Kunsthisto­riker Koddenberg, selbst mit Christo und Jeanneclau­de befreundet und langjährig­er Begleiter ihrer Projekte, beschreibt den Zeitgeist um „Wrapped Reichstag“: „Diese Wiederbele­bung Berlins nach dem Fall der Mauer und der architekto­nische Trubel zogen Künstler und Kreative nach Berlin in den 90er Jahren. Da war der Reichstag einer der Bausteine, die dazu geführt haben.“Nach düsteren Jahrzehnte­n ein alu-glitzernde­r Grundstein für die wieder entstehend­e Weltmetrop­ole. dpa

Es war eine Botschaft von Kunst und Kultur, die in die Welt ausstrahlt­e.

Rita Süssmuth, damalige Bundestags­präsidenti­n

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Fotos: dpa 90 Gewerbekle­tterer und 120 Montagearb­eiter verhüllten – nach Entwürfen von Jean-claude und Christo, die das Projekt selbst finanziert­en – den Reichstag mit 100 000 Quadratmet­ern dickem Polypropyl­engewebe, dem eine Aluminiumb­eschichtun­g den silbernen Glanz verlieh.
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