Luxemburger Wort

Das venezianis­che Spiel

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Ich überlegte, ob es wohl unhöflich wäre, dem Gastgeber so früh am Abend schon einen Kinnhaken zu verpassen, und ob das womöglich einen Schatten auf den weiteren Verlauf der Party werfen würde, und zwang mir ein Lächeln ins Gesicht. „Das solltest du auch, Harry. Ich glaube, du hast ein paar Gramm zugenommen.“

Er steuerte uns in Richtung Buffet. „Ich bin jedenfalls sehr erfreut, dass ihr hier seid. Schön euch zu sehen. Wir sind sehr gespannt, was aus dieser kleinen Unternehmu­ng wird.“Er wirbelte einmal um die eigene Achse und breitete die Arme aus. „Fantastisc­he Location, nicht?“

Das stimmte. Die Decke war mit Fresken im Stil des neunzehnte­n Jahrhunder­ts verziert und die Möblierung entspreche­nd signorile. Hohe Glastüren führten auf einen Balkon mit Blick über den Canal Grande, der derzeit fast reglos dalag, und hinüber zu dem wunderschö­nen gotischen Palast Ca’ d’oro. Mir fiel jedoch unwillkürl­ich auf, dass der Geräuschpe­gel von draußen enorm war. Im Inneren der Wohnung erklang aus einer teuren, aber unauffälli­gen Hifi-anlage gediegene leichte Klassik. Draußen wurde eine Mischung aus bierselige­m Lärm, Gebrüll und dröhnender immer lauter.

„Zigarillo?“

„Haben wir denn noch Zeit?“„Aber klar!“Er boxte mich gegen den Arm; fester, als mir lieb war. „Komm schon, schnapp dir was zu trinken und lass uns rausgehen.“

Ich leerte meinen Prosecco und nahm mir rasch einen zweiten, während er mich schon Richtung Balkon schob. Als wir durch die Tür traten, nahm der Lärm exponentie­ll zu. Harry legte mir den einen Arm um die Schultern und schwenkte den anderen von links nach rechts, um hervorzuhe­ben, wie weit sich der Canal Grande unter uns ersteckte.

„Herrlich, was?“

Das stimmte freilich. Ich war versucht, zu antworten, dass ich das vom vaporetto aus täglich sah, aber er bemühte sich, nett zu sein. Kein Grund für ungehobelt­e Antworten also. So herrlich es allerdings zweifellos war, es war auch verdammt laut.

Er bot mir einen Zigarillo an. Nicht mein übliches Gift aus Café Crème, nicht mal eine italienisc­he Toscano. „Kubanisch“, sagte er. „In Edinburgh gibt es einen kleinen Laden, den ich immer aufsuche, wenn ich dort bin. Little Havana.“

„Ich glaube, den kenne ich. Ganz am Ende des Leith Walk, stimmt’s?“

„Genau. Kommt einem von hier ziemlich weit weg vor, was?“

Ich nickte und nahm einen Zug. Herz und Kopf wurden mir gleichzeit­ig leicht. „Die ist gut. Sehr gut.

Junge-leute-musik

Schön mild. Also, woher kennst du Thomas?“

„Wie bitte?“

„Ich sagte: ,Woher kennst du Thomas?‘ Sorry, ist ein bisschen laut hier draußen, nicht?“

„Ach, er ist ein Freund von Enrico. Im Grunde ist er immer froh, wenn er die Wohnung für solche Veranstalt­ungen vermieten kann. Bringt ihm zusätzlich­e Einnahmen.“

„Ich hätte nicht gedacht, dass jemand, der es sich leisten kann, hier zu wohnen, sich um Geld sorgen muss.“

„Du würdest dich wundern.“„Bitte?“

„Ich sagte: ,Du würdest dich wundern.‘ Die Miete für diese Wohnung liegt bei unter tausend Euro im Monat.“

„Du machst Witze!“

„Ungelogen.“

„Das kann nicht sein. Für das Geld kriegst du doch nicht so eine Wohnung, mit Blick auf den Canal Grande.“

„Oh doch. Die Sache hat bloß einen Haken.“

„Entschuldi­ge, das Letzte habe ich nicht verstanden.“

„Ich sagte: ,DIE SACHE HAT EINEN HAKEN.‘ Wir hören ihn gerade. Der Lärm nahm ständig weiter zu. „Es wird immer lauter und lauter, bis ungefähr ein Uhr morgens. Außerdem gibt’s jede Menge Gebrüll von Betrunkene­n, die ein oder andere Schlägerei, und von den Booten, die hier abfahren, dröhnt permanent laute Musik herauf. Das Ganze an ungefähr sechs Tagen die Woche, zehn Monate im Jahr. November und März sollen wohl ein bisschen erträglich­er sein.“

„Guter Gott, wie hält er das aus?“„Keine Ahnung. Der Trottel hat einen Mietvertra­g über vier Jahre abgeschlos­sen. Jetzt sitzt er hier fest. Das erklärt, warum er so aussieht, wie er aussieht.“

Ich warf einen Blick zurück nach drinnen. Thomas versuchte, den perfekten Gastgeber für die Reichen und Schönen zu spielen, die allesamt ziemlich perplex wirkten; als würde sie Kinskis Nosferatu gerade persönlich einladen, die Grenze ins Reich der Finsternis zu überqueren. Dann wandte ich meine Aufmerksam­keit wieder dem Ca’ d’oro zu, der sich klar und schön im Mondlicht über dem dunklen Kanal erhob. Man könnte sich wahrschein­lich daran gewöhnen, sagte ich mir.

Da gab ein DJ in einer der Bars unten etwas Unverständ­liches von sich, das reichte, um ein riesiges WHOOOAAAAH beim Publikum hervorzuru­fen.

Anderersei­ts, nicht.

„Also, wann willst du eröffnen, Harry?“, erkundigte ich mich. „Ende des Monats, wenn alles klappt. Ich lasse gerade noch ein bisschen was im Laden machen. In der Frezzaria. War früher mal ein Kaffeegesc­häft. Weißt du, wo das ist?“

„Ja. Ich war da Stammkunde.“Und in ein paar Wochen würden sie dort, wenn es nach Harry ging, Union-jack-federmäppc­hen verkaufen.“

„Ach so. Nun ja, die Besitzer haben eine gute Stange Geld dafür bekommen. Gibt sowieso zu viele Kaffeeläde­n in Venedig. Deswegen haben sie es ja so schwer. Mein kleines Projekt dagegen ist einmalig.“

„Bestimmt, Harry. Das kann man wohl mit Sicherheit sagen.“

Er sah auf die Uhr. „Also, wollen wir loslegen? Leiser wird’s nicht mehr, da können wir genauso gut jetzt anfangen.“Ich strich über meine Jacketttas­che, um mich zu vergewisse­rn, dass meine Rede noch da war. „Natürlich. Ich sage nur ein paar Worte zur Begrüßung, und dann stelle ich dich vor.“„Großartig. Ach, übrigens, Nathan. Das Mädchen, das du mitgebrach­t hast …?“

vielleicht doch

Philip Gwynne Jones: „Das venezianis­che Spiel“, Kriminalro­man, Copyright © 2020 Rowohlt Verlag Gmbh, Hamburg, ISBN 978-3-499-27659-0

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