Riskante Rückkehr zum Normalbetrieb
In zehn Tagen lockert England die Corona-einschränkungen – Experten warnen, dass der Schritt verfrüht ist
Auf diese Ankündigung haben die Engländerinnen und Engländer durstig gewartet: Am Dienstag gab Boris Johnson bekannt, dass die Pubs am 4. Juli endlich wieder ihre Türen öffnen. Auch Restaurants, Friseursalons und Hotels dürfen an diesem Tag wieder Gäste und Kunden empfangen – die strikten Einschränkungen der Corona-pandemie gehen damit nach über drei Monaten zu Ende. Aber Epidemiologen und Gesundheitsexperten haben dem Enthusiasmus gleich einen Dämpfer aufgesetzt: Noch sei es zu früh für eine Entspannung, sagen sie, der Entscheid der Regierung sei riskant und erhöhe die Gefahr, dass es zu einer zweiten Infektionswelle kommt.
Der Premierminister entschied sich zu dem Schritt, nachdem ihn etliche Parteikollegen seit Wochen gedrängt hatten, dem Lockdown ein Ende zu setzen. Sie verwiesen auf den schweren Schaden, den die forcierte Stilllegung des öffentlichen Lebens der Wirtschaft zufügt. Im April schrumpfte das BIP in Großbritannien um 20 Prozent – so viel wie noch nie zuvor. Die OECD hat kürzlich prognostiziert, dass die britische Volkswirtschaft von der Coronakrise stärker getroffen würde als andere westliche Länder.
Distanzierung gilt weiterhin
Die Lockerungen, die Johnson ankündigte – sie beziehen sich nur auf England –, stellen den Alltag im Land wieder zu einem guten Teil her. „Unser langer landesweiter Winterschlaf kommt zu einem Ende“, sagte der Premierminister am Dienstag. Es beginnt damit die Zeit des „new normal“– des neuen Normalbetriebs, der wohl noch etliche Monate dauern wird. Ein gewisses Maß an sozialer Distanzierung wird beibehalten: So müssen die Kunden in Pubs an ihren Tischen bedient werden und können ihr Pint nicht wie üblich an der Theke abholen. In Hotelkorridoren ist das Tragen von Masken vorgeschrieben, und Live-konzerte bleiben vorerst verboten. Auch
Schwimmbäder und Fitnessstudios bleiben geschlossen.
Aber führende Wissenschaftler haben den Entscheid der Regierung, überhaupt eine Lockerung einzuleiten, scharf kritisiert. David King, der frühere wissenschaftliche Berater der Regierung, hält die Entspannung für „außergewöhnlich riskant“. Die Regierung solle vielmehr versuchen, das Corona-virus vollständig auszumerzen, bevor ein Ende des Lockdowns ins Auge gefasst wird. King ist Vorsitzender des Expertenrats Independent SAGE, das sich als Alternative zum offiziellen Wissenschaftsausschuss der Regierung zusammengeschlossen hat. Das Gremium sprach sich auch gegen die angekündigte Verkürzung des Sicherheitsabstands von zwei auf einen Meter aus: „Damit geht die soziale Distanzierung im Prinzip zu Ende“, schrieb Independent SAGE auf ihrer Website.
Auch die Vorsitzenden mehrerer Berufsorganisationen haben Alarm geschlagen: Das Land müsse sich unbedingt auf eine zweite Welle vorbereiten, schrieben die Vorsitzenden von rund einem Dutzend Ärzte- und Krankenpflegerverbänden in einem offenen Brief an die Regierung. Sie befürchten, dass es bald zu lokalen Ausbrüchen von Corona-erkrankungen und einem allgemeinen Anstieg der Fallzahlen kommen könnte. Deshalb sei es dringend nötig, die Infrastruktur auf mögliche Schwachstellen abzuklopfen.
Tracing-system auf Prüfstand
Großbritannien hat bislang geschätzte 65 000 Corona-todesopfer zu beklagen – es ist von der Pandemie schwerer gebeutelt worden als die meisten Länder. Ob die Briten einer zweiten Welle gewachsen sind, hängt insbesondere davon ab, ob das System des „Contact Tracing“funktioniert: Die genaue Identifizierung und Rückverfolgung von Infektionen, sodass lokale Ausbrüche schnell isoliert und eingedämmt werden.
Aber genau hier sind die britischen Behörden bislang gescheitert: Eine Recherche der New York Times hat ergeben, dass die Kontaktverfolger in England schlecht ausgebildet sind, dass Tausende Fälle von Ansteckungen übersehen worden sind, und die Koordination mit den Lokalbehörden hapert. Und die Corona-app, die schon vor Monaten angekündigt worden ist, steckt noch immer in der Entwicklungsphase und kommt wohl frühestens im Herbst.