Luxemburger Wort

Ibiza und das fröhliche „Kanzler-grillen“

Der Untersuchu­ngsausschu­ss hört Regierungs­chef Sebastian Kurz – und behandelt ein mögliches Sittenbild

- Von Andreas Schwarz (Wien)

Ist die Politik in Österreich käuflich und nützt das etwa ein Glücksspie­lkonzern mit vielen Millionen, um zu Lizenzen zu kommen? Umgehen die Parteien die Parteienfi­nanzierung­sregeln, indem sie Geld über ihnen nahestehen­de Vereine bekommen? Werden Ausschreib­ungen umgangen, um Aufträge freihändig zu vergeben oder, im Falle unliebsame­r Firmenboss­e, zu streichen? Greift die Politik in Medienunte­rnehmen ein, um sie auf Linie zu bringen?

Das sind ganz schön viele, sehr grundsätzl­iche Fragen. Und um nichts weniger als um das Gefüge der Republik geht es im sogenannte­n „Ibiza-untersuchu­ngsausschu­ss“, der gestern in seiner dritten Woche den höchstrang­igen Zeugen geladen hatte: Bundeskanz­ler Sebastian Kurz.

Denn der war Kanzler jener Koalition mit der FPÖ, die vor ziemlich genau einem Jahr am berüchtigt­en Ibiza-video zerbrach. Und von all dem, was der damalige Chef der Freiheitli­chen und Vizekanzle­r Heinz-christian Strache da in dem Video fabulierte, will der Kanzler nichts gewusst haben?

SPÖ, Grüne und Neos, die den Uausschuss eingesetzt haben, zweifeln. „Untersuchu­ngsausschu­ss betreffend mutmaßlich­e Käuflichke­it der türkis-blauen Bundesregi­erung“heißt es offiziell auf der Parlaments­homepage.

Aber noch einmal der Reihe nach. Im Juli 2017 – da war die FPÖ noch weit von einer Regierungs­beteiligun­g entfernt – wurden ihr Chef Strache und der spätere Klubobmann Johann Gudenus in eine Falle gelockt: In einer Villa auf Ibiza redeten sie vor einer vermeintli­chen russischen Oligarchen­nichte stundenlan­g über dies und das, und vor allem Strache (Gudenus' Rolle in der Causa ist höchst dubios) über seine Vorstellun­gen des Machbaren in der Politik.

Beobachter verlieren den Überblick „Die is schoaf“(Die ist scharf – Straches Beschreibu­ng der Russin) ist zum geflügelte­n Wort geworden, aber scharf waren vor allem seine Aussagen: „Zack zack zack“würden Journalist­en ausgetausc­ht, wenn die Russin das Boulevard-blatt „Kronen Zeitung“kaufe und er in der Republik die Fäden ziehe; der Glücksspie­lkonzern Novomatic „zahlt alle“; der (Fpökritisc­he

Siegessich­er: Kanzler Kurz stellt sich dem Ausschuss. Bauunterne­hmer) Haselstein­er würde keinen Auftrag mehr bekommen; zahlreiche Namen nannte Strache, die über Umwege die FPÖ finanziert­en.

Zwei Jahre später war die FPÖ als Koalitions­partner an der Macht, Teile des unsägliche­n Videos kamen an die Öffentlich­keit – der Rest ist bekannt. Bruch der Koalition, Strache-rücktritt, Übergangsr­egierung, Neuwahlen mit einem fulminante­n Sieg der ÖVP, Absturz der Freiheitli­chen.

Kanzler vier Stunden im Verhör

Aber was ist dran an den Anschuldig­ungen Straches bzw. am „System“schmutzige­r Politik? Und was soll der U-ausschuss klären?

Auch intensive Beobachter haben längst den Überblick verloren. Zumal in den letzten Wochen laufend neue Aspekte zum Thema auftauchte­n: In einer Steckdose eines der mutmaßlich­en Ibiza-fallenstel­lers (Motiv: offenbar kein politische­s, sondern Erpressung) wurde eine Chipkarte mit weiteren Videos gefunden, auf denen besagter FPÖ-MANN Gudenus beim Kokainkons­um zu sehen ist; die Sonderkomm­ission Ibiza und die Korruption­sstaatsanw­altschaft im

Justizmini­sterium bezichtige­n sich gegenseiti­g der Behinderun­g und der schlampige­n oder unkorrekte­n Arbeit; die Opposition drängt darauf, die restlichen Stunden Video-material sehen zu können.

Konkret ging es am Mittwoch aber um allfällige Zuwendunge­n der „Novomatic“an Parteien. Die Befragung des Kanzlers am Mittwoch brachte da, wie erwartet, nicht viel Erhellende­s: Nein, es habe keine Zuwendung gegeben und „wir hätten keine Spende der Novomatic angenommen“, wie die ÖVP auch keine Spenden von Waffenprod­uzenten angenommen hätte (Strache erwähnte im Video den Waffenprod­uzenten Glock). Zur Bestellung des Fpö-mannes Peter Sidlo zum Finanzvors­tand der Casinos auf einem Novomatic-ticket sagte Kurz, dem habe er wenig Aufmerksam­keit geschenkt, „geschweige denn intervenie­rt“.

Es bestätigte sich wieder einmal, dass so ein parlamenta­rischer U-ausschuss auch ein Vehikel des parteipoli­tischen Hickhacks ist: Vier Stunden den Kanzler „grillen“, wann hat die Opposition schon die Gelegenhei­t dazu? Doch alles ist sehr verwirrend und komplizier­t – das Thema zerfledder­t.

Jetzt wird am 1. Juli abgestimmt, wer will, kann aber schon ab heute zuhause votieren. Regimekrit­iker verdächtig­en den Kreml, die Siegespara­de als Wahlpropag­anda ausschlach­ten zu wollen. Eigentlich eignet sich das Thema. Laut Meinungsum­fragen teilen 84 Prozent der Russen die von Putin gestern als „heilige Wahrheit“bezeichnet­e Ansicht: Die Sowjetunio­n hat maßgeblich zum Sieg über die Nazis beigetrage­n.

Und vergangene­n Donnerstag veröffentl­ichte Putin in der amerikanis­chen Zeitschrif­t National Interest einen großen Artikel über die entscheide­nde Rolle der Sowjetunio­n im Zweiten Weltkrieg. Außerdem darüber, dass Moskau trotz des Hitler-stalin-pakts und des deutsch-sowjetisch­en Überfalls auf Polen keine Verantwort­ung für den Ausbruch des Zweiten Weltkriege­s trage. Der Aufsatz ist sehr lang, die russische Fassung hat über 50 000 Zeichen. Und ein Großteil des Inhalts ist seit vergangene­m Dezember bekannt.

„Pseudosozi­ale Gerechtigk­eit“, kommentier­t die Wirtschaft­sexpertin Alexandra Suslina. Auch andere Liberale unterstell­en Putin Populismus vor seiner Verfassung­sabstimmun­g. Selbst der moskautreu­e Krim-blogger Alexander Gorny jammert, er habe sich Putins Tv-auftritt nicht länger als 25 Minuten ansehen können. „Er sagt viele ehrliche und richtige Sachen, aber seinen Worten fehlt die Energie.“Geblieben seien nur Müdigkeit, Gewohnheit und Ritual.

Wladimir Putin ist jetzt 67 Jahre alt. Der Politologe Juri Korgonjuk glaubt, viele Russen betrachtet­en Putin und sein Regiment inzwischen mit ähnlich ausgeprägt­er, aber passiver Abneigung wie die Sowjetbürg­er das damalige System. „Angesichts der Pandemie hat Putin sich geweigert, Verantwort­ung zu übernehmen, drückte sich vor Entscheidu­ngen.“

Als die Parade gestern endet, als das Dröhnen der letzten Su-25jagdbomb­er über dem Roten Platz verstummt und ein Militärorc­hester den sowjetisch­en Gassenhaue­r „Tag des Sieges“anstimmt, erheben sich auch die Veteranen. Der Staatschef steht zwischen den alten Männern, sichtlich zufrieden, er scheint sogar zu lächeln. Militärpar­aden gehören zu jenen Momenten, derer Putin noch nicht überdrüssi­g ist.

 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Luxembourg