Ibiza und das fröhliche „Kanzler-grillen“
Der Untersuchungsausschuss hört Regierungschef Sebastian Kurz – und behandelt ein mögliches Sittenbild
Ist die Politik in Österreich käuflich und nützt das etwa ein Glücksspielkonzern mit vielen Millionen, um zu Lizenzen zu kommen? Umgehen die Parteien die Parteienfinanzierungsregeln, indem sie Geld über ihnen nahestehende Vereine bekommen? Werden Ausschreibungen umgangen, um Aufträge freihändig zu vergeben oder, im Falle unliebsamer Firmenbosse, zu streichen? Greift die Politik in Medienunternehmen ein, um sie auf Linie zu bringen?
Das sind ganz schön viele, sehr grundsätzliche Fragen. Und um nichts weniger als um das Gefüge der Republik geht es im sogenannten „Ibiza-untersuchungsausschuss“, der gestern in seiner dritten Woche den höchstrangigen Zeugen geladen hatte: Bundeskanzler Sebastian Kurz.
Denn der war Kanzler jener Koalition mit der FPÖ, die vor ziemlich genau einem Jahr am berüchtigten Ibiza-video zerbrach. Und von all dem, was der damalige Chef der Freiheitlichen und Vizekanzler Heinz-christian Strache da in dem Video fabulierte, will der Kanzler nichts gewusst haben?
SPÖ, Grüne und Neos, die den Uausschuss eingesetzt haben, zweifeln. „Untersuchungsausschuss betreffend mutmaßliche Käuflichkeit der türkis-blauen Bundesregierung“heißt es offiziell auf der Parlamentshomepage.
Aber noch einmal der Reihe nach. Im Juli 2017 – da war die FPÖ noch weit von einer Regierungsbeteiligung entfernt – wurden ihr Chef Strache und der spätere Klubobmann Johann Gudenus in eine Falle gelockt: In einer Villa auf Ibiza redeten sie vor einer vermeintlichen russischen Oligarchennichte stundenlang über dies und das, und vor allem Strache (Gudenus' Rolle in der Causa ist höchst dubios) über seine Vorstellungen des Machbaren in der Politik.
Beobachter verlieren den Überblick „Die is schoaf“(Die ist scharf – Straches Beschreibung der Russin) ist zum geflügelten Wort geworden, aber scharf waren vor allem seine Aussagen: „Zack zack zack“würden Journalisten ausgetauscht, wenn die Russin das Boulevard-blatt „Kronen Zeitung“kaufe und er in der Republik die Fäden ziehe; der Glücksspielkonzern Novomatic „zahlt alle“; der (Fpökritische
Siegessicher: Kanzler Kurz stellt sich dem Ausschuss. Bauunternehmer) Haselsteiner würde keinen Auftrag mehr bekommen; zahlreiche Namen nannte Strache, die über Umwege die FPÖ finanzierten.
Zwei Jahre später war die FPÖ als Koalitionspartner an der Macht, Teile des unsäglichen Videos kamen an die Öffentlichkeit – der Rest ist bekannt. Bruch der Koalition, Strache-rücktritt, Übergangsregierung, Neuwahlen mit einem fulminanten Sieg der ÖVP, Absturz der Freiheitlichen.
Kanzler vier Stunden im Verhör
Aber was ist dran an den Anschuldigungen Straches bzw. am „System“schmutziger Politik? Und was soll der U-ausschuss klären?
Auch intensive Beobachter haben längst den Überblick verloren. Zumal in den letzten Wochen laufend neue Aspekte zum Thema auftauchten: In einer Steckdose eines der mutmaßlichen Ibiza-fallenstellers (Motiv: offenbar kein politisches, sondern Erpressung) wurde eine Chipkarte mit weiteren Videos gefunden, auf denen besagter FPÖ-MANN Gudenus beim Kokainkonsum zu sehen ist; die Sonderkommission Ibiza und die Korruptionsstaatsanwaltschaft im
Justizministerium bezichtigen sich gegenseitig der Behinderung und der schlampigen oder unkorrekten Arbeit; die Opposition drängt darauf, die restlichen Stunden Video-material sehen zu können.
Konkret ging es am Mittwoch aber um allfällige Zuwendungen der „Novomatic“an Parteien. Die Befragung des Kanzlers am Mittwoch brachte da, wie erwartet, nicht viel Erhellendes: Nein, es habe keine Zuwendung gegeben und „wir hätten keine Spende der Novomatic angenommen“, wie die ÖVP auch keine Spenden von Waffenproduzenten angenommen hätte (Strache erwähnte im Video den Waffenproduzenten Glock). Zur Bestellung des Fpö-mannes Peter Sidlo zum Finanzvorstand der Casinos auf einem Novomatic-ticket sagte Kurz, dem habe er wenig Aufmerksamkeit geschenkt, „geschweige denn interveniert“.
Es bestätigte sich wieder einmal, dass so ein parlamentarischer U-ausschuss auch ein Vehikel des parteipolitischen Hickhacks ist: Vier Stunden den Kanzler „grillen“, wann hat die Opposition schon die Gelegenheit dazu? Doch alles ist sehr verwirrend und kompliziert – das Thema zerfleddert.
Jetzt wird am 1. Juli abgestimmt, wer will, kann aber schon ab heute zuhause votieren. Regimekritiker verdächtigen den Kreml, die Siegesparade als Wahlpropaganda ausschlachten zu wollen. Eigentlich eignet sich das Thema. Laut Meinungsumfragen teilen 84 Prozent der Russen die von Putin gestern als „heilige Wahrheit“bezeichnete Ansicht: Die Sowjetunion hat maßgeblich zum Sieg über die Nazis beigetragen.
Und vergangenen Donnerstag veröffentlichte Putin in der amerikanischen Zeitschrift National Interest einen großen Artikel über die entscheidende Rolle der Sowjetunion im Zweiten Weltkrieg. Außerdem darüber, dass Moskau trotz des Hitler-stalin-pakts und des deutsch-sowjetischen Überfalls auf Polen keine Verantwortung für den Ausbruch des Zweiten Weltkrieges trage. Der Aufsatz ist sehr lang, die russische Fassung hat über 50 000 Zeichen. Und ein Großteil des Inhalts ist seit vergangenem Dezember bekannt.
„Pseudosoziale Gerechtigkeit“, kommentiert die Wirtschaftsexpertin Alexandra Suslina. Auch andere Liberale unterstellen Putin Populismus vor seiner Verfassungsabstimmung. Selbst der moskautreue Krim-blogger Alexander Gorny jammert, er habe sich Putins Tv-auftritt nicht länger als 25 Minuten ansehen können. „Er sagt viele ehrliche und richtige Sachen, aber seinen Worten fehlt die Energie.“Geblieben seien nur Müdigkeit, Gewohnheit und Ritual.
Wladimir Putin ist jetzt 67 Jahre alt. Der Politologe Juri Korgonjuk glaubt, viele Russen betrachteten Putin und sein Regiment inzwischen mit ähnlich ausgeprägter, aber passiver Abneigung wie die Sowjetbürger das damalige System. „Angesichts der Pandemie hat Putin sich geweigert, Verantwortung zu übernehmen, drückte sich vor Entscheidungen.“
Als die Parade gestern endet, als das Dröhnen der letzten Su-25jagdbomber über dem Roten Platz verstummt und ein Militärorchester den sowjetischen Gassenhauer „Tag des Sieges“anstimmt, erheben sich auch die Veteranen. Der Staatschef steht zwischen den alten Männern, sichtlich zufrieden, er scheint sogar zu lächeln. Militärparaden gehören zu jenen Momenten, derer Putin noch nicht überdrüssig ist.