Allein Sein
Plädoyer für einen verkannten Zustand
len? Der deutsche Tv-entertainer Hape Kerkeling fand dafür im Titel seines Bestsellers über seine Reise auf dem Jakobsweg eine griffige Formulierung, die geradezu sinnbildlich für diese Art von Ausbruch zu stehen scheint: „Ich bin dann mal weg.“Gerade weil wir uns allzu oft und ohne Not in einen Zustand des „immer höher, weiter, schneller“manövrieren, sowohl beruflich als auch privat von Termin zu Termin hetzen und uns dabei meist in Gesellschaft anderer befinden, scheint ein Inneund ein Aushalten mit sich selbst nicht sehr verlockend. Zumal Teamfähigkeit das ungeschriebene Gebot der Stunde ist. Welchen triftigen Grund könnte es also schon geben, sich freiwillig dem Alleinsein auszusetzen und auf den Kontakt zu seinen Mitmenschen zu verzichten? Laut Kerkelings Erfahrung schon einmal diesen: „Tausende von Schmetterlingen umflattern mich in Zubiri und in Logroño hocken fünf Störche auf einer Kirchturmspitze. Wahrscheinlich sind das bedeutungslose Beobachtungen, doch wenn man alleine wandert, verändert sich die Wahrnehmung.“
Im Alleinsein – nicht abgelenkt von einem omnipräsenten kommunikativen Dauerrauschen – schärfen sich die Sinne wieder für scheinbar belanglose Dinge; wir können unsere Umgebung anders spüren und mit neuen Augen sehen. Das Gedankenkarussell in unserem Kopf kann zur Ruhe kommen, unsere ganz persönlichen Wünsche und Sehnsüchte finden in der Stille und in der Abgeschiedenheit mit uns selbst neues Gehör, weil sie nicht von den Bedürfnissen der uns umgebenden Menschen übertönt werden. Wir treten in Kontakt mit uns selbst und erkennen dabei vielleicht unerledigte Themen und Probleme, die wir aufarbeiten und bestenfalls auch lösen können. „Tägliche Oasen des Alleinseins sind unerlässlich, um in einem Alltag von Beziehungen, Familie, Arbeit und anderen Aktivitäten nicht im Strudel der Eindrücke und Anforderungen unterzugehen. Alleinsein als Lebensphase kann ein Abschnitt des Lebensweges sein, der viele reiche Erfahrungen mit sich bringt“, betont Ursula Wagner.
Alleinsein ist „Nahrung für die Seele“, durch die neues Denken und Wirken überhaupt erst entstehen kann. Nicht umsonst sind z. B. insbesondere kreative Menschen in ihrem Schaffensprozess geradezu darauf angewiesen, sich immer wieder zurückzuziehen, um Gedanken und Ideen fließen bzw. reifen zu lassen und sich ungestört im eigenen Rhythmus auf ihre Arbeit konzentrieren zu können. Der Philosoph, Pädagoge und Naturforscher Jeanjacques Rousseau, Querdenker der Aufklärung und maßgeblicher Wegbereiter der französischen Revolution, vertrat sogar die Auffassung, dass jede Form der Ablenkung durch Mitmenschen die negative Konsequenz zur Folge habe, dass man sich von sich selbst entferne und überhaupt kein authentisches Werk verfassen könne. Einige wissenschaftliche Studien, die sich Jahrhunderte später dieses Themas annahmen, geben Rousseau – und mit ihm vielen anderen künstlerischen und intellektuellen Größen, die das Alleinsein als unerlässliche kreative Kraftquelle priesen – in dieser Ansicht recht. So fanden Forscher der Universität Utrecht heraus, dass man allein kreativer ist und nicht etwa beim Brainstorming in einer Gruppe. Der Us-psychologe Gregory Feist untersuchte 1998 in einer Meta-analyse typische Merkmale von kreativen Menschen und schlussfolgerte, dass die Fähigkeit, allein sein zu können zum schöpferischen Schaffen unbedingt dazugehöre. In Gesellschaft anderer sei es unmöglich, ein Buch zu schreiben oder Musik zu komponieren, Künstler hätten im Vergleich zu ihren Mitmenschen vielmehr ein gesteigertes Bedürfnis danach, ihre Aufmerksamkeit und Energien nach innen zu richten.
Sich während einer geraumen Zeit nur mit sich selbst zu beschäftigen, niemandem Rede und Antwort zu stehen oder die Verantwortung für andere übernehmen zu müssen, einfach, das zu tun und zu lassen, wozu man gerade Lust hat – dieser Zustand ist nicht nur für Künstler erstrebenswert. Allein schon deshalb, weil man auf diese Weise sehr eindrücklich erfahren kann, Glück aus sich selbst heraus zu empfinden und zu definieren, anstatt es stets von anderen bzw. ihrer Gesellschaft abhängig zu machen. Eine Fähigkeit, die vielen von uns abhanden gekommen zu sein scheint oder aber durch mediale Dauerberieselung und soziale Kontaktflut zumindest starke Konkurrenz bekommen hat. Wie bedeutsam die Rückbesinnung auf die Ressource des Alleinseinkönnens ist, zeigt sich nicht nur darin, das Leben selbstbestimmter zu meistern, sondern auch dann, wenn es darum geht, schwierige Zeiten, wie z. B. nach einer Trennung, dem Verlust eines geliebten Menschen oder aber „von oben“verhängter Kontakt- und Ausgangssperre besser zu überstehen. „Wir haben alle ein intuitives Wissen darüber, dass Alleinsein wertvoll und wichtig für uns ist. Warum vermeiden so viele Menschen es dennoch, eine Zeit lang allein zu sein oder sogar allein zu leben? Vielleicht liegt es daran, dass Zeiten des Alleinseins auch Angst hervorrufen“, schreibt Ursula Wagner in ihrem Buch und plädiert dafür, sich mit dieser Angst auseinanderzusetzen: „Wozu sollten wir uns dem Alleinsein stellen? Weil Alleinsein uns in unserem Alltag in jedem Fall begleiten wird. Es gibt einen inneren Raum in uns, der sich nicht mit Medien, Beziehungen oder Arbeit verdecken lässt.“
Allein ist man kreativer als beim Brainstorming
Gemeinschaft und Alleinsein –
ein Balanceakt
Gleichzeitig gilt aber auch, dass der Mensch ein soziales Wesen und niemand eine Insel ist. Ein Widerspruch? Nicht unbedingt. Eher ein Balanceakt. Wir brauchen die Gemeinschaft mit anderen, um zu überleben; wir brauchen Berührung, Austausch und Bestätigung. Dies sollte uns jedoch nicht daran hindern, die Begegnung mit uns selbst zu pflegen, bewusste „Allein-zeiten“der Besinnung einzurichten, um unseren „inneren Raum“zu finden und unseren Vorstellungen entsprechend gedanklich „einzurichten“. Dies kann ganz gezielt geschehen, vielleicht bei Wandertouren in der Stille der Natur oder bei einem Meditationsaufenthalt in einem Kloster oder anderen spirituellen Stätten. Wichtig ist es aber auch, solche Momente im Alltag zuzulassen und dort immer wieder für Augenblicke zu sorgen, in denen wir ganz mit uns und bei uns sind. Ob wir dabei etwas konkretes tun oder im Sessel sitzen und unseren Gedanken nachhängen und reflektieren: Es gilt, einen Rückzugsort für uns und nur für uns zu schaffen, an dem wir unsere Batterien wieder aufladen und unsere Gedanken neu ordnen können. „Alleinsein als Für-sich-sein verstanden, ist heute etwas, das man sich erkämpfen muss – denn Gesellschaft ist allgegenwärtig. Wohin man auch geht, trifft man auf andere Menschen. Im Analogen wie im Digitalen“, heißt es in dem Artikel „Das Sein, Allein“von Greta Lührs in dem Philosophie-magazin „Hohe Luft“( Juni 2014). Es erfordert sicher einigen Mut, diesen Kampf aufzunehmen und das Recht auf Zeit nur mit sich und für sich gegenüber Kollegen, Freunden oder Familie einzufordern. Aber: Es lohnt sich. Für ein besseres psychisches Gleichgewicht. Nicht nur in Corona-zeiten.
Literatur-tipps
Ursula Wagner „Die Kunst des Alleinseins“, Theseus Verlag 2005. Ursula Wagner zieht sich selbst mehrmals im Jahr allein in ein Kloster zurück. In ihrem sehr anregend und verständlich geschriebenen Buch finden sich nach jedem Kapitel konkrete Übungen und Meditationen, die man im Alltag ausprobieren kann. Neben Atem-, Achtsamkeits- und Entspannungsübungen z. B. auch Hinweise, sich mit den verschiedenen Aspekten des Alleinseins auf individuelle Weise auseinandersetzen zu können.
Hape Kerkeling „Ich bin dann mal weg – meine Reise auf dem Jakobsweg“, Piper Verlag 2009