Der geschwächte Jubilar
Die Vereinten Nationen können auch 75 Jahre nach ihrer Gründung keinen Frieden bringen
Ende Januar luden die Vereinten Nationen junge Menschen in das New Yorker Hauptquartier. Mit väterlichem Habitus diskutierte Generalsekretär António Guterres mit den ausgesuchten Youngstern über die großen Herausforderungen im Jahr des 75. Geburtstags der Weltorganisation – die seltsamen Corona-erkrankungen in China galten damals noch als lästiges, aber beherrschbares Problem.
Guterres fragte die jungen Gäste, ob die Welt in 25 Jahren besser oder schlechter dastehen werde? „Ich glaube, es gibt eine Welle des Optimismus“, urteilte Guterres, als sich eine Mehrheit für eine bessere Welt entschied. Kurz darauf schlitterte die ganze Welt in die Corona-krise, deren Ausmaß und Ende nicht absehbar sind. Die Krise „stellt die Zerbrechlichkeit unserer Welt bloß“, sagt Guterres heute.
Das Virus enthüllt auch die Zerbrechlichkeit der Vereinten Nationen: Die Weltgesundheitsorganisation sollte eigentlich den internationalen Kampf gegen die Pandemie koordinieren. Die Un-sonderorganisation erweist sich aber als zu schwach dafür – und sie stolperte in die Fronten des Machtkampfes zwischen den USA
Den Begriff des Friedens schrieben die Verfasser an 52 Stellen in die Charta, davon an 32 Stellen als „Weltfrieden“.
unter Präsident Donald Trump und China unter Präsident Xi Jinping. Besonders aber in ihrem Kerngeschäft, der Friedenssicherung, zeigen die UN während der Pandemie Schwäche. Wiederum verhindert die Fehde zwischen Washington und Peking eine zupackende UN. Im 75. Jubiläumsjahr der Vereinten Nationen trumpfen die Großmächte rücksichtslos auf – zu Lasten der Weltorganisation.
Rund 80 Millionen auf der Flucht
Als die Staatenvertreter im Frühjahr 1945 in San Francisco zur Un-gründung zusammenkamen, waren die unvorstellbaren Schrecken des Zweiten Weltkriegs noch nicht zu Ende. Nach mehreren Wochen einigte man sich auf ein Un-modell, das zumal die USA, die Sowjetunion und Großbritannien entworfen hatten. Am 26. Juni 1945 unterzeichneten die Vertreter von 50 Staaten die Charta der Vereinten Nationen, am 24. Oktober desselben Jahres trat das Regelwerk in Kraft.
Den Begriff des Friedens schrieben die Verfasser an 52 Stellen in die Charta, davon an 32 Stellen als „Weltfrieden“. Im Artikel 1 der Charta geloben die Gründungsmitglieder, „Bedrohungen des Friedens zu verhüten und zu beseitigen, Angriffshandlungen und andere Friedensbrüche zu unterdrücken“. Sie gaben die Entwicklung „freundschaftlicher“Beziehungen zwischen den Nationen als Ziel aus.
Doch ein Dreivierteljahrhundert später halten viele Krisen und Kriege die Welt in Atem, neue Kämpfe brechen immer wieder auf: Die Konflikte
Us-präsident Barack Obama wendet sich an die Uno-vollversammlung im Jahr 2015 (oben).
Der berühmte Hauptsitz der Vereinten Nationen am East River in Manhattan (unten). in Libyen, Jemen und Syrien sind traurige Beispiel für andauernde bewaffnete Auseinandersetzungen, in denen viele Länder mitmischen. Zudem stellen sich nach Erkenntnissen von Unbeobachtern bereits totgesagte Terrorgruppen wie der „Islamische Staat“neu auf.
Die ausufernde Gewalt sorgt für einen traurigen Rekord: Fast 80 Millionen Menschen befanden sich zum Jahreswechsel auf der Flucht vor Gewalt und Unterdrückung. „Niemals zuvor haben wir so viele Menschen auf der Flucht registriert“, erklärt der Unhochkommissar Filippo Grandi. Im Jubiläumsjahr der UN droht die Zahl der Entwurzelten sogar noch weiter zu steigen.
Wie hilflos die Vereinten Nationen dem Töten und Vertreiben gegenübersteht demonstriert in fast schon tragischer Weise der Appell für einen globalen Waffenstillstand. Angesichts der Corona-pandemie rief Generalsekretär Guterres im März alle Konfliktparteien zu einem globalen Waffenstillstand auf. Alle Menschen sollten sich auf den Kampf gegen den „gemeinsamen
Feind“, das Corona-virus, konzentrieren. Mehr als hundert Staaten und Konfliktparteien unterstützen den Appell. „Jedoch ist diese Unterstützung noch nicht in konkrete Taten umgesetzt worden“, resignierte Guterres Ende Mai.
Zwei Mächte dominieren
Tatsächlich toben in vielen Regionen der Welt die Kämpfe weiter: Ob in der Sahelzone oder in Afghanistan. Der Konfliktexperte Jean-marc Rickli vom Genfer Zentrum für Sicherheitspolitik betont jedoch, dass mehr und mehr nichtstaatliche Akteure die Kämpfe austragen, etwa in Libyen oder der Demokratischen Republik Kongo. „Es ist generell sehr schwierig für die UN, nichtstaatliche Akteure zu erreichen oder sogar von einem Waffenstillstand zu überzeugen“, hält Rickli fest. „Die UN sind aus Mitgliedsländern zusammengesetzt. Viele nichtstaatliche Akteure fühlen sich von Un-appellen wie dem Aufruf zum globalen Waffenstillstand nicht angesprochen.“
Zudem kann sich der Un-sicherheitsrat nicht auf eine Unterstützung für die Guterres-initiative einigen: Nur der Rat kann im Un-system völkerrechtlich verbindliche Beschlüsse fassen. Hinter vorgehaltener Hand prangern Diplomaten die Unfähigkeit des potenziell mächtigsten Un-gremiums als „Schande“an.
Zwar drängen Frankreich, Deutschland und andere Staaten seit Monaten auf eine Resolution des Rates. Doch ein Machtkampf zwischen den Vetomächten USA und China lässt die Initiative im Sicherheitsrat versanden. „Damit ist möglicherweise eine große Chance für eine etwas friedlichere Welt verspielt worden“, betont Experte Rickli. „Die USA und China haben die Muskeln spielen lassen. Das zeigt, wie zwei Mächte das internationale politische System dominieren.“
Und mit dieser Dominanz müssen die Vereinten Nationen noch weit über ihr Jubiläumsjahr hinaus leben – damit wird auch der Sicherheitsrat mit seinen fünf ständigen Mitgliedern nicht die Rolle spielen können, die er eigentlich laut der Charta spielen sollte. „Die Machtstrukturen der UN sind nur begrenzt reformfähig, vor allem im Un-sicherheitsrat“, erläutert Helmut Volger, Koordinator des Forschungskreises Vereinte Nationen. „Die fünf ständigen Mitglieder können, weil ihre Zustimmung für Chartaänderungen erforderlich ist, alle großen Reformen, wie etwa eine Erweiterung des Sicherheitsrats, verhindern.“Zumal die USA und China sind dazu entschlossen – egal welche Präsidenten in Washington und Peking das Sagen haben.
Die Machtstrukturen der UN sind nur begrenzt reformfähig, vor allem im Unsicherheitsrat.
Helmut Volger, Koordinator des Forschungskreises Vereinte Nationen